1. Einführung
Als in den 1960er Jahren die ersten Eziden aus der heutigen Türkei nach Deutschland kamen,
um unter anderem zu arbeiten, hat man sich sicherlich die Frage gestellt, wer die Eziden sind.
Hierzu erste schriftlich festgehaltene Daten gab es in den Arbeitspapieren und/oder in der
staatlichen Ausländerbehörde, wenn es um die Erteilung eines Bleiberechts ging. Womit haben
hier Eziden auf die Frage der Volkszugehörigkeit und Konfession geantwortet?
Mit der Zeit hat man angefangen die Gruppe der Eziden “schriftlich“ zu erklären. Infolge dessen
sind zahlreiche literarische Werke entstanden, die bis heute von den Eziden erzählen. Diese
Werke basieren überwiegend auf Daten und Informationen, die häufig im Rahmen
wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch öffentlichen Debatten, stattgefunden haben. Allerdings ist
im gleichen Atemzug zu beobachten, dass diese Werke bezüglich des Inhalts nicht
deckungsgleich sind, was sowohl in der Ezidischen Community als auch bei der
Gesamtweltbevölkerung für Irritierung sorgt, da man bezüglich eines grundlegenden
Verständnisses verschiedene Bilder zu den Eziden vermittelt. Mal sind die Eziden eine religiöse
Minderheit und mal die Anhänger des Propheten namens “Zarathustra bzw. Zoroaster“. Dann
sind sie religiöse Anhänger des Erzengengels Tawsi Melek und letztlich auch nicht zu vergessen,
gehören sie dem Volksstamm der Kurden an. Sicherlich lassen sich an dieser Stelle die
Assoziationen zu den Eziden weiterführen, die wir im Folgenden bewusst aufgrund unserer
Fragestellung nicht reproduzieren. Infolge dieser beispielhaften Bilder, die zu den Eziden auf
wissenschaftlicher Ebene verschriftlicht wurden, lässt sich eines festhalten:
Aktuell gibt es trotz zahlreicher Verschriftlichungen, vor allem von ezidischen Akademikern kein
einheitliches Bild zu den Eziden. Sicherlich ist es an dieser Stelle nicht zu verantworten von
“DEN“ Eziden zu sprechen (Stichwort Heterogenität), doch sollte es eine grundlegende Idee dazu
geben, wer die Eziden sind, vor allem wenn man den Schritt wagt, sich als Repräsentant und
Vertreter der Eziden darzustellen.
An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Eziden bisher kein einheitliches Bild beziehungsweise
Wissen bezüglich ihrer Sitten und Bräuche, Volkszugehörigkeit, Religion, Sprache, Kultur und
Geschichte vermitteln konnten, obwohl es häufig um keine tiefgreifende, sondern um “einfache“
Fragen geht, wie beispielsweise ob die Eziden eine ethnische Gruppe oder eine religiöse
Minderheit innerhalb der Kurden sind. An dieser Stelle stellen wir folgende These in den Raum:
Ohne politischen und fremdeinwirkenden Einfluss, was eigentlich zur Aufrechterhaltung einer
bestimmten Ideologie (gemeint ist die kurdisch nationalistische “Idee“) dienen soll, die nicht
selten Eziden instrumentalisieren, wäre es im Interesse aller Eziden “einfacher“ über ein Bild und
einheitliches Verständnis zu den Eziden zu debattieren, was eigenständig im Kollektiv
produziert/erarbeitet und vermittelt wird. Kurz: Ohne politisch externen und ideologisch fremden
Einfluss der Debattierenden, wäre es wahrscheinlicher ein grundlegendes Verständnis und
Wissen bezüglich der Eziden zu produzieren.
Exkurs: An dieser Stelle ist vor allem an den ezidischen Völkermord vom 03.08.2014 in Shingal
(Nordirak) zu erinnern. Als der Islamische Staat Mosul einnahm, war es von vielen Eziden und
Experten vorherzusehen, dass der Islamische Staat bald Shingal und somit die Eziden angreifen
würde. Einige Eziden haben den Versuch gewagt, Shingal rechtszeitig zu verlassen, um in die
sichere autonome kurdische Region zu fliehen, allerdings vergebens. An der Grenze wurden sie
von der kurdischen Peschmerga mit der Begründung zurückgewiesen, dass man sie vor dem
Islamischen Staat beschützen und ehrenvoll verteidigen werde und das zuletzt einen Tag vor dem
Völkermord. Als de Islamische Staat am 03.08.2014 um 02:30 Uhr anfing ezidische
Siedlungsgebiete anzugreifen, befanden sich nach unserer Recherche circa 12.000 kurdische
Soldaten in Richtung der sicheren autonomen Region Kurdistan.
Was anschließend passierte, erfuhr die gesamte Weltbevölkerung. Heute leben über 300.000
ehemals in Shingal lebende Eziden in Flüchtlingslagern, die von der Regionalregierung
“überwacht“ werden.
Sowohl infolge des 74. Völkermords an die Eziden, als auch generell wird heute weltweit darüber
diskutiert, wer die Eziden sind. Fernab von bestehenden Verschriftlichungen gibt es aktuell
Staaten, die die Eziden als ethnische Gruppe einkategorisiert haben (beispielsweise Russland,
Armenien und Georgien), während andere äußern, dass die Eziden zu dem kurdischen Volk
gehören. Sowohl von Wissenschaftlern als auch von Ezidischstämmigen gibt es zu der Frage, wer
die Eziden sind unterschiedliche Aussagen, die wir im Folgenden näher betrachten möchten.
2. Wer sind die Eziden? Ein kurzer Blick in die Literatur
Als Repräsentant der Ezidischen Gruppe äußert Tolan (2015) im Rahmen seiner Arbeit beim
“Zentralrat der Eziden in Deutschland“, dass die Eziden von ihrer Volkszugehörigkeit zu den
Kurden gehören (2015). Auch nach dem 74. Völkermord an die Eziden führte im Rahmen des
“Baden-Württembergische Projektes“ zur Psychotherapeutischen Betreuung von eintausend
ezidischer Frauen (und Mädchen), die in IS Gefangenschaft waren, Kizilhan (Umsetzer des
Projekts und Psychotherpeut) weiterhin Öffentliche Reden und Verschriftlichungen, in denen er
die Eziden zu dem Kurdischen Volk zählt. Dies sind beispielhafte Vertreter der einen Seite.
Die andere Seite sind unter anderem (einschließlich der zunehmend mehr in Deutschland
lebenden und zunehmend mehr in Shingal lebenden Eziden) die in der ehemaligen Sowjetunion
lebenden Eziden, die staatlich als ethnische Gruppe anerkannt und registriert sind.
Zu erschließen ist, dass es faktisch um eine Gruppe geht, allerdings man grundlegende Fragen
unterschiedlich beantwortet. Die aktuell am häufigsten durchgeführte Debatte in der Ezidischen
Community lautet, ob die Eziden eine Ethnische Gruppe oder als religiöse Minderheit zum
Volksstamm der Kurden gehören, was nur zu gut das Bild der aktuellen Problematik
wiederspeigelt. Um das eindeutig beantworten zu können, sollte es nicht genügen, wie eben
erwähnt und in der Vergangenheit “erfolgreich“ durchgeführt, einfache Thesen zu stellen,
sondern eindeutig das zu differenzieren, wovon gesprochen und debattiert wird. Um das
erfolgreich leisten zu können, sollten Begriffe wie Volkszugehörigkeit beziehungsweise
ethnische Gruppe, Religiöse Minderheit und Politische Ideologien im Alltag näher beleuchtet
werden, wenn es darum geht, wer die Eziden sind.
Im Folgenden werden wir uns der Frage annähern, was eine Ethnische Gruppe ist. Hierzu werden
wir auf unterschiedliche Definitionen eingehen, um beleuchten zu können, wie es diesbezüglich
um die “Eziden-Frage“ steht.
3. Definitionen zu Ethnischen Gruppen
Im Feld der Ethnologie war ursprünglich primär begrifflich von “Völkern“ die Rede, was sich
infolge der Arbeit des (einflussreichenden) Ethnologen Shirokogoroff veränderte, da man nun,
seit den 1920er Jahren, begrifflich das Wort “Ethnos“ (Synonym für “Volk“) verwendete.
Im deutschsprachigen Raum hat seit den 1950er Jahren der Ausdruck “ethnische Gruppe“ Wörter
wie beispielsweise “Volk“ ersetzt (Beer, 2019). “Ethnie“ kann als eine
überwiegend endogame familienübergreifende Gemeinschaft definiert werden,
deren Mitglieder in der gegenseitigen Abgrenzung von anderen Menschen eine gemeinsame
Abstammung, eine gemeinsame Geschichte und meist einen gemeinsamen Kanon an Werten und
Normen teilen. Bei Endogamie (Binnenheirat) werden Heiratspartner überwiegend innerhalb
dieser Gemeinschaft gesucht (Beer,2019).
Hervorzuheben aus dieser Definition ist an dieser Stelle, dass in der Endogamie die
Heiratspartner hauptsächlich innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe ausgewählt werden,
was anscheinend für alle global existierenden Ethnien gilt außer bei den Eziden, wo der Aspekt
“Binnenheirat“ unter dem Deckmantel der Religion formuliert wird (Stichwort: “Strenge
religiöse Heiratsregeln bei den Eziden“).
Ob dieses Phänomen legitim ist und was die tatsächlichen Gründe hierfür sind, wird im späteren
Verlauf erläutert.
Alenfelder (2019) sagt, dass unter dem Begriff “Ethnie“ eine Menschengruppe zu verstehen ist,
die durch gemeinsame Eigenschaften, wie beispielsweise Sprache, Kultur und Gebräuche
verbunden ist. Der Begriff Ethnie habe nach Schmitt (2019) eine gemeinsame Geschichte, Kultur
und die Verbindung zu einem bestimmten Territorium. Weiter zählt er ein Gemeinschaftsgefühl
beziehungsweise “einem Gefühl der solidarischen Gemeinsamkeit für eine bestimmbare
Population von Menschen“ auf, wozu eine gemeinsame Sprache gehöre (Schmitt, 2019).
Zusammenfassend und grundlegend kann gesagt werden, dass eine Ethnie grob aus einer Gruppe
mit einer gemeinsamen Sprache, Kultur und Bräuche, Geschichte und gemeinsame Herkunft
besteht, wenn wir die Kernaussagen der bisher vorgestellten Definitionen zusammenfassen.
Weiter wird nach Alenfelder (2019) das Solidaritätsgefühl beziehungsweise Gemeinschaftsgefühl
genannt, dass in Anlehnung an gesellschaftliche Vielfalt und dem individuell ausgeprägten
sozialen Hintergrund von Menschen und/oder individuelle Lebenswelten und Praktiken,
wie beispielsweise ideologische und politische Einstellungen, in der folgenden Erläuterung außen
vor lassen werden, da unter Betrachtung dieses Aspektes es durch die Reihen hindurch scheitern
würde eine Ethnie als Kollektiv zu untersuchen, wenn es um eine Untersuchung im Hinblick auf
eine ethnische Einkategorisierung geht. Aus den vorgestellten Definitionen werden einzelne
Begrifflichkeiten, die für eine ethnische Einkategorisierung von großer Bedeutung sein sollten, aufgezählt und erläutert.
Erkenntnis: Aus Definitionen bezüglich einer ethnischen Gruppe kann keine Assoziation zur
Religion erkannt werden, was damit zusammenhängt, dass Religion seinen eigenen Bereich hat.
Weiter werden die oben erkannten Begrifflichkeiten in Bezug auf eine Ethnie einzeln erwähnen
und am Beispiel der Eziden erläutern.
Kultur:
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass Kultur die Gestaltung des Zusammenlebens zwischen
Menschen meint (Pawlak (2019), wie die Eziden untereinander leben und nicht-Eziden begegnen.
Um den Begriff näher betrachten zu können, erscheint es zunächst notwendig diesen mit
Stichpunkten zu füllen, um feststellen zu können, ob die “Art und Weise der Lebenspraktiken“
ezidisch oder “nicht-ezidisch (und somit kurdisch“) geprägt ist.
In Anlehnung an Begriffe wie Heirat und Heiratsbräuche würde in Deutschland nie jemand auf
die Idee kommen -so die Behauptung-, dass der Junggesellenabschied, die Blumenkinder auf der
Hochzeit, „Die Braut über die Schwelle tragen“ und “Reis werfen“ (eines der ältesten deutschen
Hochzeitsbräuche) religiöse Verbindungen haben. Interessant ist es an dieser Stelle, wenn es um
die Eziden geht. Unter den Namen “Eziden“ werden in literarischen Werken alle folgenden
Heiratsbräuche unter dem Deckmantel der Religion vermittelt (Stichwort: “Religiöse
Heiratsregeln bei der den Eziden“).
Nicht selten wurden in der Vergangenheit hierzu überwiegend negative Assoziationen genannt,
was sich an Begriffen wie “Ehrenmorde“ zeigt, was an dieser Stelle nicht selten auf die Religion
einer Gemeinschaft zurückgeführt wurde. Fragt man die Betroffenen, in welcher mündlich
überlieferten religiösen Passade dieses (die Legitimation des Todes in der Religion) genannt
wird, wird es darauf keine adäquate Antwort geben. Sollte dieses mit der Religion legitimiert
werden, weil man als Täter vermeintlich sehr religiös war, dann sollte im gleichen Atemzug nach
dem Glaubensbekenntnis gefragt werden, das in der Regel nicht zu nennen ist beziehungsweise in
Anlehnung des Unwissens bezüglich Religion nicht genannt werden kann. Infolge der kritischen
Fragen an Täter würde der Versuch, sein Verhalten mit einer angeblich zum Tode aufgerufenen
Religion, zu legitimieren scheitern, was in der Vergangenheit (auch von Außenstehenden) leider
nicht der Regelfall war. Hier wäre es notwendig gewesen Mythen auf dem Grund zu gehen und
nicht weiterhin Mythen zu reproduzieren. Verhalten einzelner Menschen unabhängig vom
Sozialen Hintergrund (wie beispielsweise race, class body und gender) auf die Religion oder
Ethnie zurückzuführen, zeigt stigmatisierende und diskriminierende Züge. Daher werden wir in
diesem Abschnitt den objektiven Versuch wagen, den Kulturbegriff im Kontext der
Heiratsbräuche zu untersuchen.
Wie bereits erwähnt gibt es deutsche Bräuche, die fernab von Religion, auf deutschen Hochzeiten
praktiziert werden. Bei Eziden sind hierbei folgende Beispiele zu nennen:
→“Abholung der Ehefrau aus ihrem Elternhaus vom Ehemann“,
→seitens des Mannes -infolge einer “Kennenlernphase“ mit der zukünftigen Ehefrau“ die
Möglichkeit mit Eltern und Zeugen das Elternhaus der zukünftigen Ehefrau zu besuchen, um den Wunsch einer Heirat mit Tochter der Familie der zukünftigen Ehefrau mitzuteilen
→ODER die Möglichkeit mit Ehefrau “durchzubrennen“.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Möglichkeit mit der Geliebten “durchzubrennen“ ,ohne
die Sichtweise und Haltung der Eltern zu berücksichtigen, verhältnismäßig mehr als erwartet in
Anspruch genommen wurde, auch im aktuell fremdbesetzten Heimatland der Eziden.
→Nicht selten gibt es am Hochzeitstag einen mit unter anderem Süßigkeiten beschmückten
Baum (“dara mraza“), der Glück für das Brautpaar symbolisieren soll. In den Heimatländern der
Eziden wurde diese Tradition intensiver gelebt, während diese heute vor allem im Westen
unterschiedlich gehandhabt wird. Im postsowjetischen Raum, wie beispielweise Armenien oder
Georgien, wird unter Eziden dieses Heiratsritual verhältnismäßig intensiver praktiziert.
→Mit dem “Heiratsauto“ angekommen im Hochzeitssaal, öffnet traditionell der Ehemann seiner
Ehefrau die Autotür, sodass sie anschließend aussteigt. Auf dem Weg in Richtung
Hochzeitssaaleingangstür wirft die Ehefrau eine häufig aus Ton gebaute ovale Kugel mit Geld
und Süßigkeiten auf den Fußboden, was beim erfolgreichen Auseinanderfallen Glück für die Ehe
verspricht. Selbstverständlich spricht während oder nach der Hochzeit eine Person (in der Regel
ein Ehepaar) mit dem Brautpaar. In dem Gespräch wird das Brautpaar verbal auf eheliche
Herausforderungen beraten und vorbereitet.
Bei einer Ezidischen Beerdigung wird der/die Verstorbene umwickelt von einem weißen
Leichentuch (“kefen“) in den Sack gelegt und beerdigt. Vorher und nachher wird in der Regel
insgesamt über drei oder sieben Tage häufig in einem angemieteten Saal gemeinsam getrauert.
Durchgehend werden Essen und Trinken angeboten. Eine traditionell und sehr zeitintensive
ezidische Beerdigung auf die Religion zu reduzieren, würde an dieser Stelle für eine realitätsferne
konstruiert real nichtexistierende Gegebenheit sprechen, da während der Beerdigung in der Regel
maximal wenige Minuten entlang von religiösen Gebeten (Dua) und Hymnen (Qawl) gebetet
wird. Objektiv ist auf einer drei oder sieben tägigen ezidischen Beerdigung der Anteil an
kulturellen Praktiken (Verteilung von Getränken und Essen entlang einer grundlegenden
Gastfreundlichkeit) weit höher als der tatsächlich praktizierte religiöse Teil, was in der Regel von
einer Person durchgeführt wird, während die anderen nicht nachahmen, sondern teils zuhören und
sich teils weiter um die vielen Gäste kümmern.
Um hier ein Beispiel bezüglich unserer grundlegenden Fragestellung (Ethnie versus Religiöse
Gruppe) zu nennen, werden wir einen kurzen gedanklichen Schlenker in die Religionspraktiken
des Islams oder Christentum während einer Beerdigung machen. Hier ist zweifelslos zu
beobachten, dass bei der Rede eines Imams oder Priesters die Anwesenden die religiösen
Praktiken teils nachsprechen und/oder nachahmen, was ein Unterschied wie “Tag und Nacht“ zur
bereits beschriebenen Ezidischen Community ist.
Um den kulturellen Begriff gehaltsvoller mit Inhalt zu füllen, werden wir auf das Neujahresfest
eingehen, das weltweit mit Beendigung des letzten Dezembertages eines Jahres gefeiert wird, wo
selbstverständlich die Eziden (mit)feiern. Allerdings würde an dieser Stelle nie jemand den
Versuch wagen Silvester als religiösen Anlass zu deuten. Warum sollte dieses an dieser Stelle bei
den Eziden -die ihr Neujahresfest im April feiern- anders sein?! Eziden wird nämlich, teils selbstverschuldet, unterstellt, dass ihr Neujahresfest religiös bedingt ist, was fernab jeglicher
ezidischer Alltagsrealität ist. Sicherlich enthält das ezidische Neujahresfest einen verhältnismäßig
kleinen religiös praktischen Anteil, ist aber wie bei der Gesamtbevölkerung als “kulturelles“ Fest
einzukategorisieren. Interessant sollte an dieser Stelle ein gedanklicher Schlenker in die Zeit der
Sumerer gemacht werden, die ebenso das Neujahresfest im April gefeiert haben und nicht als
religiöse Gruppe verstanden werden.
Im Kontext der Kultur ist im Folgenden eine Frau traditionell “ezidisch“ bekleidet zu sehen,
fernab eines religiösen Kontexts.
4. Geschichte – Gemeinsame Schicksalsschläge
Im Folgenden soll kurz das Thema “gemeinsame Schicksalsschläge“, was für die Bedeutung
eines ethnischen Kollektivs von großer Bedeutung sein sollte, “angerissen“ werden.
In Anlehnung an Krieg und Morde gibt es unter Ethnien -fernab von ideologischen Sichtweisenein kollektiv traumatisches Erlebnis, wie beispielsweis der Völkermord an Armeniern im Jahre
1915, was bis heute thematisch in der armenischen Community präsent ist. Geschichtlich gesehen
ist nachweislich zu betonen, dass die Eziden und Kurden trotz verschiedener Haltungen bezüglich
Identität nicht dieselben Völkermorde und damit verbundene Schicksalsschläge hatten. Im
Gegenteil: Auch Kurden, wie beispielsweise Bedirxan Beg verübte “Tur abdin“ von 1836-1844
ein Massaker an die Eziden. Als Saddam Husain am 16. März 1988 einen Giftgasangriff auf die
Stadt Halabdscha in der heutigen autonomen Region Kurdistan verübte, war rein physisch kein
Ezide betroffen. Am 07. August 2007 sind infolge einer Explosion (zwei mit Sprengstoff
beladene Lastwagen) circa 800 Eziden getötet und 1500 weitere Eziden in Shingal verletzt
worden. Nach unserer Recherche liegen bezüglich dieses Anschlages keine offiziellen Zahlen
von getöteten und/oder verletzten Kurden vor.
Ein weiterer Schicksalsschlag ist der am 03.08.2014 durch den Islamischen Staat verübte
Genozid an die Eziden, wo ebenfalls keine Kurden betroffen waren. Um an dieser Stelle keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht darum die Schicksäle auf einer Skala von
“schlimm/tragisch bis nicht schlimm/nicht tragisch“ zu vergleichen und einzukategorisieren,
lediglich darum an kurzen Beispielen den Denkimpuls anzuregen und sachlich aufzuzeigen, dass
es geschichtlich gesehen -fernab von ideologischen und politischen Haltungen- keine
gemeinsame Schicksalsschläge gegeben hat (,was nicht heißt, dass man sich ideologisch politisch
gesehen nicht verbunden fühlt, wenn es um bestimmte Sachverhalte geht).
5. Herkunft und Siedlungsgebiete
Der Norden des Iraks, Nordosten von Syrien und südöstlich in der Türkei werden nach Tas
(2014) als Hauptsiedlungsgebiete der Eziden beschrieben und sagt weiter, dass der Nordirak das
Hauptsiedlungsgebiet der Eziden ist. Hier lebe die Hälfte der Eziden (Taş, 2014).
Das war der Stand von 2014. Mittlerweile ist zu ergänzen, dass sich -besonders nach dem
Völkermord- zunehmend mehr Eziden global verteilt haben: Heute finden sie Eziden auch in
Australien, Canada, Amerika und in Europa, vor allem in Deutschland.
Nicht zu vergessen sind die in der ehemaligen Sowjetunion lebenden Eziden, die sich heute in
den Staaten von Georgien, Russland und Armenien aufhalten. (Abhängig Literaturquelle und
Autor wird die Zahl der Eziden weltweit zwischen 1 Million und 2 Millionen geschätzt.)
6. Sprache
Um die Sprache der Eziden näher zu beleuchten, möchten wir zunächst das wiedergeben, was
bisher als die Sprache der Eziden (in Deutschland) vermittelt wird. Abgesehen von Ausnahmen
besteht diesbezüglich folgende Auffassung: “Die Eziden sprechen kurdisch, genauer gesagt den
kurmanci-Dialekt“, sinngemäß ist das die am häufigsten verbreitete Antwort, wenn es darum
geht, welche Sprache die Eziden sprechen. Dieses wird sowohl teils von Eziden, als auch von
Nicht-Eziden verbalisiert und vermittelt. Nun stellt sich an dieser Stelle folgende Frage:
Wenn “kurmanci“ (neben den Dialekten Gorani, Sorani und Zazaki) ein von Eziden gesprochener
Dialekt ist, wie ist dann ein Dialekt zu definieren und an welchen Kriterien “messbar“.
Hierzu vertritt Algin (2019) den Standpunkt, dass es unter Sprachwissenschaftlern keine
Einigkeit/Konsens darüber gibt, wie Sprache und Dialekt voneinander abzugrenzen sind.
„Es gibt kein wissenschaftlich unstrittiges Kriterium für die Abgrenzung zwischen Sprache und
Dialekt“ (Algin 2019). Weiter argumentiert er, dass die Abgrenzung zwischen Sprache und
Dialekt oft weniger aus wissenschaftlichen Gründen, sondern vielmehr aus sozialen oder
politischen Gründen erfolge.
Eziden aus der ehemaligen Sowjetunion gebrauchen mehrheitlich für ihre Sprache die
Bezeichnung “Êzd(î)kî” (deutsch: “Êzîdisch”), die seit 2001 in Russland, Georgien und
Armenien offiziell anerkannt ist. Darüber hinaus sagt Algin, dass eine große Intoleranz und
Ablehnung gegenüber der Verwendung “Êzdîkî” existiere. Hierzu ergänzt und verweist er ebenso
auf den intellektuellen Raum der Êzîden, die verhältnismäßig mehrheitlich kurdisch-nationalistisch gesinnt sind (Algin, 2019). “Kurmandschi” und “Êzdîkî” seien nach Algin (2019)
“Namen derselben Sprachvarietät“ und nennt das Beispiel “Bosnisch”, “Serbisch” und
“Kroatisch”, was ebenso verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sprache sind.
An dieser Stelle ist es von großer Bedeutung den Anthropologen Ernest Chantre zu benennen, der
während seiner Forschungsreise im Jahre 1895 Êzîden (in Birecik) in der heutigen Türkei
interviewt hat. Übersetzt aus dem Französischen soll ein Ezide Folgendes gesagt haben:
„Sie beide (Êzîdî und Kurden) sprechen “Kourmandji”. Wobei die Êzîden ihre Sprache als
“zyman e ezda” (die Sprache der Êzîden”) bezeichnen, und sie behaupten, dass es die Kurden
sind, die ihre Sprache sprechen, und nicht sie diejenigen sind, die die Sprache der Kurden
sprechen.”
(„Les uns et les autres parlent le «Kourmandji». Quoique les Yézidi appellent leur langue «zyman
e ezda» (langue des Yézidi ) et prétendent que ce sont les Kurdes qui parlent leur langue, et non
pas eux qui parlent la langue des Kurdes.“ (Ernest Chantre, „Notes ethnologiques sur les Yésidi“,
1895))
Es ist zu erschließen, dass die Eziden lange zuvor für ihre Sprache nicht die Bezeichnung
“kurmanci“ verwenden wollten, sondern lieber von “der Sprache der Eziden“ sprachen.
Inwiefern die Berücksichtigung dieser Tatsachen, die für eine umfangreiche Arbeit bezüglich
eines ganzheitlichen Bildes der Eziden notwendig gewesen wäre und bewusst nicht erwähnt
wurde, ist fraglich und kritisch zu betrachten (Algin 2019). Als Grund für diese Gegebenheit
verweist Algin auf die “eine kurdisch-nationalistische“ -Ideologie der Betroffenen.
7. Schlusswort
Rückblickend kann zusammengefasst werden, dass im Hinblick auf die “Ethnische-Frage“
Definitionen vorgestellt wurden, dessen bedeutsamen Begriffe, wie beispielsweise Kultur und
Herkunft mit einem objektiv nachweisbaren Inhalt zu füllen waren. Dieser Inhalt ist hinsichtlich
Ethnischer Gruppe als “ezidisch“ einzukategorisieren.
Um Stellung bezüglich bisheriger Mythen zu nehmen, müssten wir an dieser Stelle die oben
genannten kulturellen -nicht religiösen- Praktiken als “kurdisch“ bezeichnen können, wenn die
Eziden tatsächlich ethnisch zu den Kurden gehören würden. Allerdings müssten dann rein
theoretisch Kurden diese Praktiken (auch) leben, was fernab jeglicher kurdischer Alltagsrealität
ist, wenn man objektiv beispielsweise eine kurdische Hochzeit und/oder Beerdigung beobachtet.
Daher -und in Anlehnung einer kurdisch-nationalistischen Haltung- wurden in der Vergangenheit
ezidisch kulturelle Praktiken, die für eine eigenständige ethnischen Gruppe der Eziden
gesprochen hätten, als religiöse Praktiken formuliert, um unter dem Deckmantel der kurdischenEthnie Platz für die politisch kurdisch geprägte Haltung und Identität zu schaffen.
So wurde bewusst oder unbewusst der kurdisch-nationalistischen Frage und damit assoziiertes
Anliegen von (nicht selten) Eziden große Aufmerksamkeit und Bedeutung geschenkt, während
im gleichen Atemzug die Eziden für diese Interessen bewusst oder unbewusst von kurdischen
Nationalisten instrumentalisiert wurden. Heute hat sich der kurdisch-nationalistische Einfluss in
der Ezidischen Gemeinschaft teilweise so intensiv etabliert, dass man hierbei vergessen hat, dass ezidisch kulturelle Praktiken tatsächlich ezidisch und somit als nicht kurdisch zu bewerten sind.
Eziden erfüllen alle Kriterien, um sie politisch als Ethnie anerkennen zu lassen, fernab vom
kurdisch-nationalistischen Einfluss.
Literaturverzeichnis
Aharon (2019):
https://haolam.de/artikel_25790.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2019)
Alenfelder (2019):
(https://profdralenfelder.weebly.com/ethnische-herkunft.html#
(zuletzt aufgerufen am 13.10.2019)
Algin (2019):
http://www.ezidipress.com/blog/ezdiki-die-sprache-der-eziden/
(zuletzt aufgerufen am 27.11.2019)
Pawlak (2019):
https://www.helles-koepfchen.de/artikel/3133.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2019)
Kizilhan (2019): Gesellschaft für bedrohte Völker,
https://www.gfbv.de/de/informieren/zeitschrift-bedrohte-voelker-pogrom/287-yeziden-kaempfenums-ueberleben/wer-sind-die-yeziden/ (zuletzt aufgerufen am 08.10.2019)
Schmitt (2019):
(https://www.rechtsanwalt.com/fachbeitrag/ossi-urteil/ (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019)
Taş (2014)
https://www.migazin.de/2014/08/13/die-yeziden-sonnenanbeter-aus-mesopotamien/2/
(zuletzt aufgerufen am 20.10.2019)
Telim (2015): Religionen im Gespräch
http://www.religionen-im-gespraech.de/thema/die-unbekannte-religion-jesidenniedersachsen/hintergrund/jesidentum-was-ist-das (zuletzt aufgerufen am 08.10.2019)