Richtigstellung zu der Stellungnahme der Kurdischen Gemeinde in Deutschland

Richtigstellung zu der Stellungnahme der Kurdischen Gemeinde in Deutschland
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben in letzter Zeit negative und erschütternde Berichterstattungen über das ezidische Volk
zur Kenntnis genommen. Den Höhepunkt liefert die Ermordung von zwei ezidischen jungen
Männern im Alter von 31 und 15 Jahren.
Über diese Geschehnisse hat der Vorstand des “Kongress der Eziden weltweit“ diskutiert und
weitere Vorgehensweisen besprochen. Im Namen des “Kongress der Eziden weltweit“
bekunden wir unsere Anteilnahme an die Familien und Angehörigen. Wir stehen ihnen mit Rat
und Tat zur Seite.
Gemäß Satzung besteht unsere Aufgabe darin, falsche Informationen (sowohl
wissenschaftliche als auch sachliche) über das ezidische Volk zu korrigieren und ihnen
entgegen zu wirken. Auch die Instrumentalisierung des ezidischen Volkes für machtpolitische
Zwecke möchten wir unterbinden.
Bezugnehmend auf den Videobeitrag von dem kurdischen Sänger Sivan Perwer und der
Stellungnahme der Kurdischen Gemeinde Deutschland hat der „Kongress der Eziden weltweit“
diese Entwicklungen beobachtet. Hierzu möchten wir einige Punkte ansprechen, die
keineswegs zu dulden sind:
Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass Sivan Perwer bezüglich der diffamierenden und
rassistischen Äußerungen über die Eziden ein Wiederholungstäter ist. Weitere Beispiele, die
sich in diese Riege von Sivan Perwer einordnen lassen, sind die kurdische Wochenzeitung
“Peyama Kurd“ (Februar 2005) sowie der Film aus dem Jahr 2018 mit dem Titel “Reseba – The
Dark Wind“. Hieran wird die kurdische Ideologie sehr deutlich erkennbar, die darin besteht, das
ezidische Volk zu spalten, zu assimilieren und letztendlich auszulöschen.
Die Stellungnahme der Kurdischen Gemeinde Deutschland trägt keineswegs zum Aufruf der
Besonnenheit oder zu einem Dialog auf. Dies wird nun anhand einiger Auszüge aus der
Stellungnahme verdeutlicht:
Die Kurdische Gemeinde verteidigt die Sichtweise von Sivan Perwer, indem sie auf
„verfassungsrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit“ verweist. Zitat: Die Kritik des Volkssängers an unreflektiertem
Glauben und Glaubensführern aller Religionen, die nicht mehr zeitgemäß seien und die Gläubigen ausbeuten, mag für besonders gläubige Menschen
schmerzhaft gewesen sein, diese Äußerungen sind jedoch die persönliche Meinung von Sivan Perwer und durch die verfassungsrechtlich verbürgte
Meinungsfreiheit gedeckt. Ferner verweisen sie auf die Toleranz und Menschenrechte sowie auf das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Zitat: Toleranz und Wertschätzung sind zwei wesentliche Aspekte des
gesellschaftlichen Zusammenhalts, den wir so dringend brauchen. Im 21. Jahrhundert stehen in Deutschland weder die Regeln einer
Religionsgemeinschaft noch die Tradition oder Sitten einer Volksgruppe über den Menschenrechten und das Grundgesetz. Es wird jedoch
außer Acht gelassen, welche Elemente zum Grundgesetz zählen. Ein zentraler Punkt ist die
Religionsfreiheit und die Menschenwürde, welche durch die Aussagen von dem Sänger
keineswegs beachtet oder toleriert wurden.
Ein weiteres Zitat bedarf einer gründlichen Aufarbeitung und Erklärung. Zitat: In der kurdischen Geschichte
ist zwischen den religiösen und zerstrittenen politischen Gruppen immer wieder Unrecht geschehen. Oft war dabei die ezidische
Glaubensgemeinschaft Ziel von Anfeindungen, Verfolgung und Massaker.
So manches Mal klebte an kurdischen Händen kurdisches Blut und nicht selten war dieser „Bruderkrieg“ von den Besatzerstaaten fingiert. Dieses
historische Erbe muss aufgearbeitet werden, aber nicht über die sozialen Medien. Dazu ist uns Europa mit seiner wechselseitigen Geschichte nicht nur
ein Vorbild, sondern bietet uns auch alle Möglichkeiten einer offenen, reflektierten, friedlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung dessen, was
passiert ist.
Bezugnehmend hierauf ist die Assimilation und Ignoranz gegenüber des ezidischen Volkes
erkennbar. Es wird auch deutlich, inwiefern kurdische Vereine und Organisationen die
Geschichte verfälschen und sich somit ihrer Verantwortung entziehen.
Abschließend bekunden wir, der Kongress der Eziden weltweit, mit über 30 kooperativen
Vereinen unsere Enttäuschung und Empörung, da in dieser Angelegenheit wiederholt ein
kurdischer Verein sich als Entscheider über das Schicksal des ezidischen Volkes betrachtet. Wir
bitten Sie im Namen der Menschlichkeit und appellieren an Ihrer Moral sowie Verantwortung für
Folgendes:
Das ezidische Volk sollte in Ihren politischen Debatten weder als “Opfer“ noch für andere
politische Zwecke missbraucht und instrumentalisiert werden.
Aufgrund der kurdischen Geschichte ist es wünschenswert und ebenso Ihre Pflicht, das
ezidische Volk mit ihrer eigenen Muttersprache, das Existenzrecht und die begangenen
Völkermorde zu akzeptieren und anzuerkennen.
Hat das ezidische Volk kein Recht auf ein Selbstbestimmungs- und Existenzrecht?
Mit diesem Schreiben rufen wir alle ezidische Volksangehörige dazu auf, sich öffentlich zu der
Ethnie “Ezidi“ und der Muttersprache ezidisch zu bekunden.

Wer sind die Eziden (Jesiden)?

Hamo Şero 1915

1. Einführung

Als in den 1960er Jahren die ersten Eziden aus der heutigen Türkei nach Deutschland kamen,
um unter anderem zu arbeiten, hat man sich sicherlich die Frage gestellt, wer die Eziden sind.
Hierzu erste schriftlich festgehaltene Daten gab es in den Arbeitspapieren und/oder in der
staatlichen Ausländerbehörde, wenn es um die Erteilung eines Bleiberechts ging. Womit haben
hier Eziden auf die Frage der Volkszugehörigkeit und Konfession geantwortet?
Mit der Zeit hat man angefangen die Gruppe der Eziden “schriftlich“ zu erklären. Infolge dessen
sind zahlreiche literarische Werke entstanden, die bis heute von den Eziden erzählen. Diese
Werke basieren überwiegend auf Daten und Informationen, die häufig im Rahmen
wissenschaftlicher Arbeiten, aber auch öffentlichen Debatten, stattgefunden haben. Allerdings ist
im gleichen Atemzug zu beobachten, dass diese Werke bezüglich des Inhalts nicht
deckungsgleich sind, was sowohl in der Ezidischen Community als auch bei der
Gesamtweltbevölkerung für Irritierung sorgt, da man bezüglich eines grundlegenden
Verständnisses verschiedene Bilder zu den Eziden vermittelt. Mal sind die Eziden eine religiöse
Minderheit und mal die Anhänger des Propheten namens “Zarathustra bzw. Zoroaster“. Dann
sind sie religiöse Anhänger des Erzengengels Tawsi Melek und letztlich auch nicht zu vergessen,
gehören sie dem Volksstamm der Kurden an. Sicherlich lassen sich an dieser Stelle die
Assoziationen zu den Eziden weiterführen, die wir im Folgenden bewusst aufgrund unserer
Fragestellung nicht reproduzieren. Infolge dieser beispielhaften Bilder, die zu den Eziden auf
wissenschaftlicher Ebene verschriftlicht wurden, lässt sich eines festhalten:
Aktuell gibt es trotz zahlreicher Verschriftlichungen, vor allem von ezidischen Akademikern kein
einheitliches Bild zu den Eziden. Sicherlich ist es an dieser Stelle nicht zu verantworten von
“DEN“ Eziden zu sprechen (Stichwort Heterogenität), doch sollte es eine grundlegende Idee dazu
geben, wer die Eziden sind, vor allem wenn man den Schritt wagt, sich als Repräsentant und
Vertreter der Eziden darzustellen.

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Eziden bisher kein einheitliches Bild beziehungsweise
Wissen bezüglich ihrer Sitten und Bräuche, Volkszugehörigkeit, Religion, Sprache, Kultur und
Geschichte vermitteln konnten, obwohl es häufig um keine tiefgreifende, sondern um “einfache“
Fragen geht, wie beispielsweise ob die Eziden eine ethnische Gruppe oder eine religiöse
Minderheit innerhalb der Kurden sind. An dieser Stelle stellen wir folgende These in den Raum:
Ohne politischen und fremdeinwirkenden Einfluss, was eigentlich zur Aufrechterhaltung einer
bestimmten Ideologie (gemeint ist die kurdisch nationalistische “Idee“) dienen soll, die nicht
selten Eziden instrumentalisieren, wäre es im Interesse aller Eziden “einfacher“ über ein Bild und
einheitliches Verständnis zu den Eziden zu debattieren, was eigenständig im Kollektiv
produziert/erarbeitet und vermittelt wird. Kurz: Ohne politisch externen und ideologisch fremden
Einfluss der Debattierenden, wäre es wahrscheinlicher ein grundlegendes Verständnis und
Wissen bezüglich der Eziden zu produzieren.

Exkurs: An dieser Stelle ist vor allem an den ezidischen Völkermord vom 03.08.2014 in Shingal
(Nordirak) zu erinnern. Als der Islamische Staat Mosul einnahm, war es von vielen Eziden und
Experten vorherzusehen, dass der Islamische Staat bald Shingal und somit die Eziden angreifen
würde. Einige Eziden haben den Versuch gewagt, Shingal rechtszeitig zu verlassen, um in die
sichere autonome kurdische Region zu fliehen, allerdings vergebens. An der Grenze wurden sie
von der kurdischen Peschmerga mit der Begründung zurückgewiesen, dass man sie vor dem
Islamischen Staat beschützen und ehrenvoll verteidigen werde und das zuletzt einen Tag vor dem
Völkermord. Als de Islamische Staat am 03.08.2014 um 02:30 Uhr anfing ezidische
Siedlungsgebiete anzugreifen, befanden sich nach unserer Recherche circa 12.000 kurdische
Soldaten in Richtung der sicheren autonomen Region Kurdistan.
Was anschließend passierte, erfuhr die gesamte Weltbevölkerung. Heute leben über 300.000
ehemals in Shingal lebende Eziden in Flüchtlingslagern, die von der Regionalregierung
“überwacht“ werden.

Sowohl infolge des 74. Völkermords an die Eziden, als auch generell wird heute weltweit darüber
diskutiert, wer die Eziden sind. Fernab von bestehenden Verschriftlichungen gibt es aktuell
Staaten, die die Eziden als ethnische Gruppe einkategorisiert haben (beispielsweise Russland,
Armenien und Georgien), während andere äußern, dass die Eziden zu dem kurdischen Volk
gehören. Sowohl von Wissenschaftlern als auch von Ezidischstämmigen gibt es zu der Frage, wer
die Eziden sind unterschiedliche Aussagen, die wir im Folgenden näher betrachten möchten.

 

2. Wer sind die Eziden? Ein kurzer Blick in die Literatur

Als Repräsentant der Ezidischen Gruppe äußert Tolan (2015) im Rahmen seiner Arbeit beim
“Zentralrat der Eziden in Deutschland“, dass die Eziden von ihrer Volkszugehörigkeit zu den
Kurden gehören (2015). Auch nach dem 74. Völkermord an die Eziden führte im Rahmen des
“Baden-Württembergische Projektes“ zur Psychotherapeutischen Betreuung von eintausend
ezidischer Frauen (und Mädchen), die in IS Gefangenschaft waren, Kizilhan (Umsetzer des
Projekts und Psychotherpeut) weiterhin Öffentliche Reden und Verschriftlichungen, in denen er
die Eziden zu dem Kurdischen Volk zählt. Dies sind beispielhafte Vertreter der einen Seite.
Die andere Seite sind unter anderem (einschließlich der zunehmend mehr in Deutschland
lebenden und zunehmend mehr in Shingal lebenden Eziden) die in der ehemaligen Sowjetunion
lebenden Eziden, die staatlich als ethnische Gruppe anerkannt und registriert sind.
Zu erschließen ist, dass es faktisch um eine Gruppe geht, allerdings man grundlegende Fragen
unterschiedlich beantwortet. Die aktuell am häufigsten durchgeführte Debatte in der Ezidischen
Community lautet, ob die Eziden eine Ethnische Gruppe oder als religiöse Minderheit zum
Volksstamm der Kurden gehören, was nur zu gut das Bild der aktuellen Problematik
wiederspeigelt. Um das eindeutig beantworten zu können, sollte es nicht genügen, wie eben
erwähnt und in der Vergangenheit “erfolgreich“ durchgeführt, einfache Thesen zu stellen,
sondern eindeutig das zu differenzieren, wovon gesprochen und debattiert wird. Um das
erfolgreich leisten zu können, sollten Begriffe wie Volkszugehörigkeit beziehungsweise
ethnische Gruppe, Religiöse Minderheit und Politische Ideologien im Alltag näher beleuchtet
werden, wenn es darum geht, wer die Eziden sind. 

Im Folgenden werden wir uns der Frage annähern, was eine Ethnische Gruppe ist. Hierzu werden
wir auf unterschiedliche Definitionen eingehen, um beleuchten zu können, wie es diesbezüglich
um die “Eziden-Frage“ steht.

3. Definitionen zu Ethnischen Gruppen

Im Feld der Ethnologie war ursprünglich primär begrifflich von “Völkern“ die Rede, was sich
infolge der Arbeit des (einflussreichenden) Ethnologen Shirokogoroff veränderte, da man nun,
seit den 1920er Jahren, begrifflich das Wort “Ethnos“ (Synonym für “Volk“) verwendete.
Im deutschsprachigen Raum hat seit den 1950er Jahren der Ausdruck “ethnische Gruppe“ Wörter
wie beispielsweise “Volk“ ersetzt (Beer, 2019). “Ethnie“ kann als eine
überwiegend endogame familienübergreifende Gemeinschaft definiert werden,
deren Mitglieder in der gegenseitigen Abgrenzung von anderen Menschen eine gemeinsame
Abstammung, eine gemeinsame Geschichte und meist einen gemeinsamen Kanon an Werten und
Normen teilen. Bei Endogamie (Binnenheirat) werden Heiratspartner überwiegend innerhalb
dieser Gemeinschaft gesucht (Beer,2019).
Hervorzuheben aus dieser Definition ist an dieser Stelle, dass in der Endogamie die
Heiratspartner hauptsächlich innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe ausgewählt werden,
was anscheinend für alle global existierenden Ethnien gilt außer bei den Eziden, wo der Aspekt
“Binnenheirat“ unter dem Deckmantel der Religion formuliert wird (Stichwort: “Strenge
religiöse Heiratsregeln bei den Eziden“).
Ob dieses Phänomen legitim ist und was die tatsächlichen Gründe hierfür sind, wird im späteren
Verlauf erläutert.

Alenfelder (2019) sagt, dass unter dem Begriff “Ethnie“ eine Menschengruppe zu verstehen ist,
die durch gemeinsame Eigenschaften, wie beispielsweise Sprache, Kultur und Gebräuche
verbunden ist. Der Begriff Ethnie habe nach Schmitt (2019) eine gemeinsame Geschichte, Kultur
und die Verbindung zu einem bestimmten Territorium. Weiter zählt er ein Gemeinschaftsgefühl
beziehungsweise “einem Gefühl der solidarischen Gemeinsamkeit für eine bestimmbare
Population von Menschen“ auf, wozu eine gemeinsame Sprache gehöre (Schmitt, 2019).
Zusammenfassend und grundlegend kann gesagt werden, dass eine Ethnie grob aus einer Gruppe
mit einer gemeinsamen Sprache, Kultur und Bräuche, Geschichte und gemeinsame Herkunft
besteht, wenn wir die Kernaussagen der bisher vorgestellten Definitionen zusammenfassen.
Weiter wird nach Alenfelder (2019) das Solidaritätsgefühl beziehungsweise Gemeinschaftsgefühl
genannt, dass in Anlehnung an gesellschaftliche Vielfalt und dem individuell ausgeprägten
sozialen Hintergrund von Menschen und/oder individuelle Lebenswelten und Praktiken,
wie beispielsweise ideologische und politische Einstellungen, in der folgenden Erläuterung außen
vor lassen werden, da unter Betrachtung dieses Aspektes es durch die Reihen hindurch scheitern
würde eine Ethnie als Kollektiv zu untersuchen, wenn es um eine Untersuchung im Hinblick auf
eine ethnische Einkategorisierung geht. Aus den vorgestellten Definitionen werden einzelne
Begrifflichkeiten, die für eine ethnische Einkategorisierung von großer Bedeutung sein sollten, aufgezählt und erläutert.
Erkenntnis: Aus Definitionen bezüglich einer ethnischen Gruppe kann keine Assoziation zur
Religion erkannt werden, was damit zusammenhängt, dass Religion seinen eigenen Bereich hat.
Weiter werden die oben erkannten Begrifflichkeiten in Bezug auf eine Ethnie einzeln erwähnen
und am Beispiel der Eziden erläutern. 

Kultur:
Grundsätzlich kann gesagt werden, dass Kultur die Gestaltung des Zusammenlebens zwischen
Menschen meint (Pawlak (2019), wie die Eziden untereinander leben und nicht-Eziden begegnen.
Um den Begriff näher betrachten zu können, erscheint es zunächst notwendig diesen mit
Stichpunkten zu füllen, um feststellen zu können, ob die “Art und Weise der Lebenspraktiken“
ezidisch oder “nicht-ezidisch (und somit kurdisch“) geprägt ist.
In Anlehnung an Begriffe wie Heirat und Heiratsbräuche würde in Deutschland nie jemand auf
die Idee kommen -so die Behauptung-, dass der Junggesellenabschied, die Blumenkinder auf der
Hochzeit, „Die Braut über die Schwelle tragen“ und “Reis werfen“ (eines der ältesten deutschen
Hochzeitsbräuche) religiöse Verbindungen haben. Interessant ist es an dieser Stelle, wenn es um
die Eziden geht. Unter den Namen “Eziden“ werden in literarischen Werken alle folgenden
Heiratsbräuche unter dem Deckmantel der Religion vermittelt (Stichwort: “Religiöse
Heiratsregeln bei der den Eziden“).

Nicht selten wurden in der Vergangenheit hierzu überwiegend negative Assoziationen genannt,
was sich an Begriffen wie “Ehrenmorde“ zeigt, was an dieser Stelle nicht selten auf die Religion
einer Gemeinschaft zurückgeführt wurde. Fragt man die Betroffenen, in welcher mündlich
überlieferten religiösen Passade dieses (die Legitimation des Todes in der Religion) genannt
wird, wird es darauf keine adäquate Antwort geben. Sollte dieses mit der Religion legitimiert
werden, weil man als Täter vermeintlich sehr religiös war, dann sollte im gleichen Atemzug nach
dem Glaubensbekenntnis gefragt werden, das in der Regel nicht zu nennen ist beziehungsweise in
Anlehnung des Unwissens bezüglich Religion nicht genannt werden kann. Infolge der kritischen
Fragen an Täter würde der Versuch, sein Verhalten mit einer angeblich zum Tode aufgerufenen
Religion, zu legitimieren scheitern, was in der Vergangenheit (auch von Außenstehenden) leider
nicht der Regelfall war. Hier wäre es notwendig gewesen Mythen auf dem Grund zu gehen und
nicht weiterhin Mythen zu reproduzieren. Verhalten einzelner Menschen unabhängig vom
Sozialen Hintergrund (wie beispielsweise race, class body und gender) auf die Religion oder
Ethnie zurückzuführen, zeigt stigmatisierende und diskriminierende Züge. Daher werden wir in
diesem Abschnitt den objektiven Versuch wagen, den Kulturbegriff im Kontext der
Heiratsbräuche zu untersuchen.

Wie bereits erwähnt gibt es deutsche Bräuche, die fernab von Religion, auf deutschen Hochzeiten
praktiziert werden. Bei Eziden sind hierbei folgende Beispiele zu nennen:
→“Abholung der Ehefrau aus ihrem Elternhaus vom Ehemann“,
→seitens des Mannes -infolge einer “Kennenlernphase“ mit der zukünftigen Ehefrau“ die
Möglichkeit mit Eltern und Zeugen das Elternhaus der zukünftigen Ehefrau zu besuchen, um den Wunsch einer Heirat mit Tochter der Familie der zukünftigen Ehefrau mitzuteilen
→ODER die Möglichkeit mit Ehefrau “durchzubrennen“.
An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Möglichkeit mit der Geliebten “durchzubrennen“ ,ohne
die Sichtweise und Haltung der Eltern zu berücksichtigen, verhältnismäßig mehr als erwartet in
Anspruch genommen wurde, auch im aktuell fremdbesetzten Heimatland der Eziden.
→Nicht selten gibt es am Hochzeitstag einen mit unter anderem Süßigkeiten beschmückten
Baum (“dara mraza“), der Glück für das Brautpaar symbolisieren soll. In den Heimatländern der
Eziden wurde diese Tradition intensiver gelebt, während diese heute vor allem im Westen
unterschiedlich gehandhabt wird. Im postsowjetischen Raum, wie beispielweise Armenien oder
Georgien, wird unter Eziden dieses Heiratsritual verhältnismäßig intensiver praktiziert.
→Mit dem “Heiratsauto“ angekommen im Hochzeitssaal, öffnet traditionell der Ehemann seiner
Ehefrau die Autotür, sodass sie anschließend aussteigt. Auf dem Weg in Richtung
Hochzeitssaaleingangstür wirft die Ehefrau eine häufig aus Ton gebaute ovale Kugel mit Geld
und Süßigkeiten auf den Fußboden, was beim erfolgreichen Auseinanderfallen Glück für die Ehe
verspricht. Selbstverständlich spricht während oder nach der Hochzeit eine Person (in der Regel
ein Ehepaar) mit dem Brautpaar. In dem Gespräch wird das Brautpaar verbal auf eheliche
Herausforderungen beraten und vorbereitet.

Bei einer Ezidischen Beerdigung wird der/die Verstorbene umwickelt von einem weißen
Leichentuch (“kefen“) in den Sack gelegt und beerdigt. Vorher und nachher wird in der Regel
insgesamt über drei oder sieben Tage häufig in einem angemieteten Saal gemeinsam getrauert.
Durchgehend werden Essen und Trinken angeboten. Eine traditionell und sehr zeitintensive
ezidische Beerdigung auf die Religion zu reduzieren, würde an dieser Stelle für eine realitätsferne
konstruiert real nichtexistierende Gegebenheit sprechen, da während der Beerdigung in der Regel
maximal wenige Minuten entlang von religiösen Gebeten (Dua) und Hymnen (Qawl) gebetet
wird. Objektiv ist auf einer drei oder sieben tägigen ezidischen Beerdigung der Anteil an
kulturellen Praktiken (Verteilung von Getränken und Essen entlang einer grundlegenden
Gastfreundlichkeit) weit höher als der tatsächlich praktizierte religiöse Teil, was in der Regel von
einer Person durchgeführt wird, während die anderen nicht nachahmen, sondern teils zuhören und
sich teils weiter um die vielen Gäste kümmern.

Um hier ein Beispiel bezüglich unserer grundlegenden Fragestellung (Ethnie versus Religiöse
Gruppe) zu nennen, werden wir einen kurzen gedanklichen Schlenker in die Religionspraktiken
des Islams oder Christentum während einer Beerdigung machen. Hier ist zweifelslos zu
beobachten, dass bei der Rede eines Imams oder Priesters die Anwesenden die religiösen
Praktiken teils nachsprechen und/oder nachahmen, was ein Unterschied wie “Tag und Nacht“ zur
bereits beschriebenen Ezidischen Community ist.

Um den kulturellen Begriff gehaltsvoller mit Inhalt zu füllen, werden wir auf das Neujahresfest
eingehen, das weltweit mit Beendigung des letzten Dezembertages eines Jahres gefeiert wird, wo
selbstverständlich die Eziden (mit)feiern. Allerdings würde an dieser Stelle nie jemand den
Versuch wagen Silvester als religiösen Anlass zu deuten. Warum sollte dieses an dieser Stelle bei
den Eziden -die ihr Neujahresfest im April feiern- anders sein?! Eziden wird nämlich, teils selbstverschuldet, unterstellt, dass ihr Neujahresfest religiös bedingt ist, was fernab jeglicher
ezidischer Alltagsrealität ist. Sicherlich enthält das ezidische Neujahresfest einen verhältnismäßig
kleinen religiös praktischen Anteil, ist aber wie bei der Gesamtbevölkerung als “kulturelles“ Fest
einzukategorisieren. Interessant sollte an dieser Stelle ein gedanklicher Schlenker in die Zeit der
Sumerer gemacht werden, die ebenso das Neujahresfest im April gefeiert haben und nicht als
religiöse Gruppe verstanden werden.

Im Kontext der Kultur ist im Folgenden eine Frau traditionell “ezidisch“ bekleidet zu sehen,
fernab eines religiösen Kontexts.

4. Geschichte – Gemeinsame Schicksalsschläge

Im Folgenden soll kurz das Thema “gemeinsame Schicksalsschläge“, was für die Bedeutung
eines ethnischen Kollektivs von großer Bedeutung sein sollte, “angerissen“ werden.
In Anlehnung an Krieg und Morde gibt es unter Ethnien -fernab von ideologischen Sichtweisenein kollektiv traumatisches Erlebnis, wie beispielsweis der Völkermord an Armeniern im Jahre
1915, was bis heute thematisch in der armenischen Community präsent ist. Geschichtlich gesehen
ist nachweislich zu betonen, dass die Eziden und Kurden trotz verschiedener Haltungen bezüglich
Identität nicht dieselben Völkermorde und damit verbundene Schicksalsschläge hatten. Im
Gegenteil: Auch Kurden, wie beispielsweise Bedirxan Beg verübte “Tur abdin“ von 1836-1844
ein Massaker an die Eziden. Als Saddam Husain am 16. März 1988 einen Giftgasangriff auf die
Stadt Halabdscha in der heutigen autonomen Region Kurdistan verübte, war rein physisch kein
Ezide betroffen. Am 07. August 2007 sind infolge einer Explosion (zwei mit Sprengstoff
beladene Lastwagen) circa 800 Eziden getötet und 1500 weitere Eziden in Shingal verletzt
worden. Nach unserer Recherche liegen bezüglich dieses Anschlages keine offiziellen Zahlen
von getöteten und/oder verletzten Kurden vor.

Ein weiterer Schicksalsschlag ist der am 03.08.2014 durch den Islamischen Staat verübte
Genozid an die Eziden, wo ebenfalls keine Kurden betroffen waren. Um an dieser Stelle keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht darum die Schicksäle auf einer Skala von
“schlimm/tragisch bis nicht schlimm/nicht tragisch“ zu vergleichen und einzukategorisieren,
lediglich darum an kurzen Beispielen den Denkimpuls anzuregen und sachlich aufzuzeigen, dass
es geschichtlich gesehen -fernab von ideologischen und politischen Haltungen- keine
gemeinsame Schicksalsschläge gegeben hat (,was nicht heißt, dass man sich ideologisch politisch
gesehen nicht verbunden fühlt, wenn es um bestimmte Sachverhalte geht).

5. Herkunft und Siedlungsgebiete

Der Norden des Iraks, Nordosten von Syrien und südöstlich in der Türkei werden nach Tas
(2014) als Hauptsiedlungsgebiete der Eziden beschrieben und sagt weiter, dass der Nordirak das
Hauptsiedlungsgebiet der Eziden ist. Hier lebe die Hälfte der Eziden (Taş, 2014).
Das war der Stand von 2014. Mittlerweile ist zu ergänzen, dass sich -besonders nach dem
Völkermord- zunehmend mehr Eziden global verteilt haben: Heute finden sie Eziden auch in
Australien, Canada, Amerika und in Europa, vor allem in Deutschland.
Nicht zu vergessen sind die in der ehemaligen Sowjetunion lebenden Eziden, die sich heute in
den Staaten von Georgien, Russland und Armenien aufhalten. (Abhängig Literaturquelle und
Autor wird die Zahl der Eziden weltweit zwischen 1 Million und 2 Millionen geschätzt.)

6. Sprache

Um die Sprache der Eziden näher zu beleuchten, möchten wir zunächst das wiedergeben, was
bisher als die Sprache der Eziden (in Deutschland) vermittelt wird. Abgesehen von Ausnahmen
besteht diesbezüglich folgende Auffassung: “Die Eziden sprechen kurdisch, genauer gesagt den
kurmanci-Dialekt“, sinngemäß ist das die am häufigsten verbreitete Antwort, wenn es darum
geht, welche Sprache die Eziden sprechen. Dieses wird sowohl teils von Eziden, als auch von
Nicht-Eziden verbalisiert und vermittelt. Nun stellt sich an dieser Stelle folgende Frage:
Wenn “kurmanci“ (neben den Dialekten Gorani, Sorani und Zazaki) ein von Eziden gesprochener
Dialekt ist, wie ist dann ein Dialekt zu definieren und an welchen Kriterien “messbar“.
Hierzu vertritt Algin (2019) den Standpunkt, dass es unter Sprachwissenschaftlern keine
Einigkeit/Konsens darüber gibt, wie Sprache und Dialekt voneinander abzugrenzen sind.
„Es gibt kein wissenschaftlich unstrittiges Kriterium für die Abgrenzung zwischen Sprache und
Dialekt“ (Algin 2019). Weiter argumentiert er, dass die Abgrenzung zwischen Sprache und
Dialekt oft weniger aus wissenschaftlichen Gründen, sondern vielmehr aus sozialen oder
politischen Gründen erfolge.

Eziden aus der ehemaligen Sowjetunion gebrauchen mehrheitlich für ihre Sprache die
Bezeichnung “Êzd(î)kî” (deutsch: “Êzîdisch”), die seit 2001 in Russland, Georgien und
Armenien offiziell anerkannt ist. Darüber hinaus sagt Algin, dass eine große Intoleranz und
Ablehnung gegenüber der Verwendung “Êzdîkî” existiere. Hierzu ergänzt und verweist er ebenso
auf den intellektuellen Raum der Êzîden, die verhältnismäßig mehrheitlich kurdisch-nationalistisch gesinnt sind (Algin, 2019). “Kurmandschi” und “Êzdîkî” seien nach Algin (2019)
“Namen derselben Sprachvarietät“ und nennt das Beispiel “Bosnisch”, “Serbisch” und
“Kroatisch”, was ebenso verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sprache sind.
An dieser Stelle ist es von großer Bedeutung den Anthropologen Ernest Chantre zu benennen, der
während seiner Forschungsreise im Jahre 1895 Êzîden (in Birecik) in der heutigen Türkei
interviewt hat. Übersetzt aus dem Französischen soll ein Ezide Folgendes gesagt haben:
„Sie beide (Êzîdî und Kurden) sprechen “Kourmandji”. Wobei die Êzîden ihre Sprache als
“zyman e ezda” (die Sprache der Êzîden”) bezeichnen, und sie behaupten, dass es die Kurden
sind, die ihre Sprache sprechen, und nicht sie diejenigen sind, die die Sprache der Kurden
sprechen.”

(„Les uns et les autres parlent le «Kourmandji». Quoique les Yézidi appellent leur langue «zyman
e ezda» (langue des Yézidi ) et prétendent que ce sont les Kurdes qui parlent leur langue, et non
pas eux qui parlent la langue des Kurdes.“ (Ernest Chantre, „Notes ethnologiques sur les Yésidi“,
1895))
Es ist zu erschließen, dass die Eziden lange zuvor für ihre Sprache nicht die Bezeichnung
“kurmanci“ verwenden wollten, sondern lieber von “der Sprache der Eziden“ sprachen.
Inwiefern die Berücksichtigung dieser Tatsachen, die für eine umfangreiche Arbeit bezüglich
eines ganzheitlichen Bildes der Eziden notwendig gewesen wäre und bewusst nicht erwähnt
wurde, ist fraglich und kritisch zu betrachten (Algin 2019). Als Grund für diese Gegebenheit
verweist Algin auf die “eine kurdisch-nationalistische“ -Ideologie der Betroffenen.

7. Schlusswort

Rückblickend kann zusammengefasst werden, dass im Hinblick auf die “Ethnische-Frage“
Definitionen vorgestellt wurden, dessen bedeutsamen Begriffe, wie beispielsweise Kultur und
Herkunft mit einem objektiv nachweisbaren Inhalt zu füllen waren. Dieser Inhalt ist hinsichtlich
Ethnischer Gruppe als “ezidisch“ einzukategorisieren.

Um Stellung bezüglich bisheriger Mythen zu nehmen, müssten wir an dieser Stelle die oben
genannten kulturellen -nicht religiösen- Praktiken als “kurdisch“ bezeichnen können, wenn die
Eziden tatsächlich ethnisch zu den Kurden gehören würden. Allerdings müssten dann rein
theoretisch Kurden diese Praktiken (auch) leben, was fernab jeglicher kurdischer Alltagsrealität
ist, wenn man objektiv beispielsweise eine kurdische Hochzeit und/oder Beerdigung beobachtet.
Daher -und in Anlehnung einer kurdisch-nationalistischen Haltung- wurden in der Vergangenheit
ezidisch kulturelle Praktiken, die für eine eigenständige ethnischen Gruppe der Eziden
gesprochen hätten, als religiöse Praktiken formuliert, um unter dem Deckmantel der kurdischenEthnie Platz für die politisch kurdisch geprägte Haltung und Identität zu schaffen.
So wurde bewusst oder unbewusst der kurdisch-nationalistischen Frage und damit assoziiertes
Anliegen von (nicht selten) Eziden große Aufmerksamkeit und Bedeutung geschenkt, während
im gleichen Atemzug die Eziden für diese Interessen bewusst oder unbewusst von kurdischen
Nationalisten instrumentalisiert wurden. Heute hat sich der kurdisch-nationalistische Einfluss in
der Ezidischen Gemeinschaft teilweise so intensiv etabliert, dass man hierbei vergessen hat, dass ezidisch kulturelle Praktiken tatsächlich ezidisch und somit als nicht kurdisch zu bewerten sind.
Eziden erfüllen alle Kriterien, um sie politisch als Ethnie anerkennen zu lassen, fernab vom
kurdisch-nationalistischen Einfluss.

Literaturverzeichnis
Aharon (2019):
https://haolam.de/artikel_25790.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2019)
Alenfelder (2019):
(https://profdralenfelder.weebly.com/ethnische-herkunft.html#
(zuletzt aufgerufen am 13.10.2019)
Algin (2019):
http://www.ezidipress.com/blog/ezdiki-die-sprache-der-eziden/
(zuletzt aufgerufen am 27.11.2019)
Pawlak (2019):
https://www.helles-koepfchen.de/artikel/3133.html (zuletzt aufgerufen am 14.10.2019)
Kizilhan (2019): Gesellschaft für bedrohte Völker,
https://www.gfbv.de/de/informieren/zeitschrift-bedrohte-voelker-pogrom/287-yeziden-kaempfenums-ueberleben/wer-sind-die-yeziden/ (zuletzt aufgerufen am 08.10.2019)
Schmitt (2019):
(https://www.rechtsanwalt.com/fachbeitrag/ossi-urteil/ (zuletzt aufgerufen am 13.10.2019)
Taş (2014)
https://www.migazin.de/2014/08/13/die-yeziden-sonnenanbeter-aus-mesopotamien/2/
(zuletzt aufgerufen am 20.10.2019)
Telim (2015): Religionen im Gespräch
http://www.religionen-im-gespraech.de/thema/die-unbekannte-religion-jesidenniedersachsen/hintergrund/jesidentum-was-ist-das (zuletzt aufgerufen am 08.10.2019)

Êzdîkî – die Sprache der Êzîden?

Georgien, 1950

 “Die Eziden aber bezeichnen ihre Sprache als «zyman e ezda» (die Sprache der Eziden)”, Ernest Chantre in „Notes ethnologiques sur les Yésidi“ im Jahr 1895, Türkei.

Seit Beginn des Völkermordes im Jahre 2014 ist die êzîdîsche Gemeinschaft zum Gegenstand zahlloser Diskussionen geworden. Einerseits, weil ihre Religion und Kultur den Meisten bis heute fremd sind, andererseits, weil der offensichtliche Mangel an Informationen über die Geschichte auch unter Êzîden immer wieder zu regen Diskussionen über die Identität der Êzîden führt. Vor allem junge, auf den sozialen Netzwerken aktive Êzîden und Kurden diskutieren regelmäßig über die ethnische Zugehörigkeit der Êzîden und über ihre Sprache. Oft kommt es zu gegensätzlichen, einander feindlich gesinnten Ansichten, insbesondere dann, wenn einige Êzîden auf die Bezeichnung “Êzdîkî“ als den Namen ihrer Sprachen beharren. Doch existiert diese wirklich? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

Mutter- und Sakralsprache

Die Muttersprache fast aller Êzîden und zugleich êzîdîsche Sakralsprache ist die unter anderem mit dem Namen Kurmandschi (Kurmancî) bezeichnete Sprache. Nahezu alle êzîdîschen Gebetstexte, Hymnen (Qewls) usw. sind in Kurmandschi überliefert. Insofern kommt dieser Sprache für die Êzîden eine besondere Bedeutung zu.

Kurmandschi wird von Kurden als Dialekt der kurdischen Sprache betrachtet, wobei Kurden in der Regel von der Existenz nur einer kurdischen Sprache ausgehen, die in verschiedene Dialekte und Mundarten unterteilt ist. Es gibt aber auch die Auffassung, Kurmandschi sei eine von mehreren eigenständigen kurdischen Sprachen.

Insbesondere, aber nicht ausschließlich die heutigen Êzîden aus dem postsowjetischen Raum verwenden mehrheitlich die Bezeichnung “Êzd(î)kî” für ihre Sprache. Das Wort “Êzdîkî” setzt sich aus dem Wortstamm “Êz[î]dî” und dem Suffix “-kî” zusammen. Das Suffix “-kî” hat die Funktion der Adjektivierung des Wortstammes. Übersetzt bedeutet “Êzdîkî” also “Êzîdisch”. Es zeigt sich also, dass es mit “Kurmandschi” (Kurmancî), “Êzdîkî” und “Kurdisch” (kurd. “kurdî”) drei sogenannte Glossonyme, d.h. Namen dieser Sprache gibt, die verwendet werden.

Dies scheint zunächst eine völlig banale Feststellung zu sein, doch bereits hier beginnt das Problem: Es herrscht eine große Intoleranz gegenüber der Verwendung des Glossonyms “Êzdîkî” – diese Bezeichnung wird unter anderem auch von intellektuellen Kreisen der Êzîden, die mehrheitlich kurdisch-nationalistisch gesinnt sind, vehement abgelehnt. Es wird sich oft ausschweifend dagegen gewehrt, den Êzîden diese Bezeichnung für ihre Sprache einzuräumen. Die Gründe hierfür und welche gesellschaftlichen Auswüchse diese Problematik angenommen hat, sollen an dieser Stelle erstmals eingehender beleuchtet werden.

Wenn heutzutage Êzîden aus dem postsowjetischen Raum in der Öffentlichkeit das Glossonym “Êzdîkî” als Bezeichnung für ihre Sprache verwenden, kommt es oft zu ablehnenden Reaktionen nur aufgrund der Verwendung dieses Wortes. Und zwar von kurdisch-nationalistisch gesinnten Kreisen, worunter sich auch oft Êzîden befinden, die kurdisch-nationalistisch sozialisiert wurden. Sie betrachten die Wendung „Êzdîkî“ als Angriff auf die nationale Einheit der Kurden. Die aus diesen gegensätzlichen Ansichten resultierenden Streitgespräche und Auseinandersetzungen, die oft ideologisch aufgeladen geführt werden, machen eine Versachlichung des Diskurses schwer. Es kommt eine allgemeine Ablehnung zum Ausdruck, zum Beispiel durch Sätze wie: “So eine Sprache existiert nicht”, “das ist Kurdisch und nicht Êzdîkî”, “wenn ihr Êzdîkî sprechen wollt, dann sucht euch eine andere Sprache als Kurdisch, denn das ist unsere”, oder etwa spottend: “Wenn ihr “Êzdîkî” sprecht, sprechen die anderen etwa “Muslimisch”?”.

Es existieren eine Reihe solcher sich dauernd wiederholender Muster, die hier nicht abschließend dargestellt werden sollen. Komplizierter wird die Argumentation manchmal, wenn etwa auch politische Aktivisten, Journalisten und Intellektuelle – bis hin zu êzîdîschen Professoren – solche oder ähnliche ablehnende Ansichten vertreten. Andere êzîdîsche Intellektuelle haben sich aus dieser Diskussion bisher gänzlich herausgehalten, weil alleine die Beschäftigung mit diesem Thema von kurdischer Seite als Verrat oder Separatismus abgestempelt wird.

Der generelle Tenor lässt sich so zusammenfassen: Die Êzîden sollen auf eine eigene Bezeichnung ihrer Sprache zu Gunsten eines höheren Zieles, nämlich der kurdisch-nationalistischen Einheit, verzichten. Die Eigenbezeichnung der Êzîden wird als Gefahr eines bis heute sehr zerbrechlichen nationalen Gefühls unter den Kurden aufgefasst.

Gibt es nun also “Êzîdîkî” überhaupt oder handelt es sich um eine politisch und ideologisch motivierte Wortneuschöpfung? Nur durch eine eingehende Aufklärung ist ein Konsens und damit ein Ende ideologischer Auseinandersetzungen möglich.

Sprache und Glossonym

An den Auseinandersetzungen lässt sich beobachten, dass die Gegner des “Êzdîkî”-Begriffs die Sprache an sich auf der einen Seite und den Namen der Sprache (das Glossonym) auf der anderen Seite gedanklich nicht differenzieren. Den Satz “Ihr sprecht Kurdisch und nicht Êzîdîsch” kann man so verstehen, dass der Behauptung widersprochen wird, Êzîdisch sei eine andere Sprache als Kurdisch, oder so verstehen, dass der Behauptung widersprochen wird, das Glossonym, also die bloße Bezeichnung “Êzdîkî”, existiere nicht, sondern nur “Kurdisch”. Was genau behauptet oder gemeint wird, darüber wird man fast immer im Unklaren gelassen; dies wohl deshalb, weil sich der Behauptende oft selbst im Unklaren darüber ist, was er genau meint. Tatsache ist zunächst, dass “Kurmandschi” und “Êzdîkî” Glossonyme, d.h. Namen derselben Sprachvarietät sind. Ein und dieselbe Sprache kann durchaus verschiedene Glossonyme haben. Das ist nichts Ungewöhnliches. So sind etwa “Bosnisch”, “Serbisch” und “Kroatisch” verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sprache. In Pakistan wird die Bezeichnung Urdu, in Indien der Name Hindi für dieselbe Sprache verwendet. Das sind Beispiele, in denen voneinander verschiedene Gruppen unterschiedliche Namen für dieselbe von allen diesen Gruppen selbst gesprochene Sprache verwenden. Die Verwendung des Glossonyms “Êzdîkî” ist nicht schon deshalb “falsch”, weil andere Gruppen dieselbe Sprache sprechen und dabei für sie eine andere Bezeichnung verwenden. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn für dieselbe Sprache verschiedene Bezeichnungen existieren.

Sprechen die Êzîden also kurdisch?

Oft wird gesagt, Êzîden sprächen “Kurdisch” oder seien “kurdischsprachig”. Weil, wie erwähnt, viele Êzîden die Bezeichnung “Êzdîkî” verwenden, lässt sich in Frage stellen, ob diese Aussage so richtig ist. Zum Beispiel wäre es sehr ungewöhnlich zu behaupten, dass Inder Urdu sprechen oder dass Pakistani Hindi sprechen. Gleiches gilt zum Beispiel bei Serben und Bosniaken hinsichtlich Serbisch und Bosnisch.

Schon die Frage, wie die Sprache “Kurdisch” zu definieren ist, insbesondere ob zum Kurdischen mehrere Sprachen oder verschiedene Dialekte nur einer Sprache gehören, und welche Sprachvarietäten in beiden Fällen einzubeziehen sind, ist nicht klar zu beantworten. Kurden selbst sind meist der Auffassung, “Kurdisch” (kurd. “kurdî) sei eine Sprache mit verschiedenen Dialekten wie etwa Kurmandschi, Sorani, Zazaki und Gorani. Wenn man aber zum Beispiel im deutsch- oder englischsprachigen Wikipedia Artikel nachliest, so ist von “kurdischen Sprachen” im Plural die Rede; in der kurmandschisprachigen Version derselben Enzyklopädie wird Kurdisch hingegen als eine Sprache mit verschiedenen Dialekten beschrieben.

Unter Sprachwissenschaftlern gibt es keinen Konsens zu der Frage, wie Sprache und Dialekt voneinander abzugrenzen sind. Die wohl am weitesten verbreitete Auffassung zur Unterscheidung von Sprache und Dialekt legt das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit (mutual intelligibility) zugrunde. Dieser These nach sind alle gegenseitig verständlichen Sprachvarietäten nur Dialekte einer Sprache, und nicht gegenseitig verständliche (Gruppen von) Sprachvarietäten jeweils eigenständigen Sprachen zuzuordnen. Warum aber selbst dieses Abgrenzungskriterium nicht überzeugt und daher zu keinem gefestigten Konsens geführt hat, zeigt folgendes Problem: In einem Dialektkontinuum, d.h. in einer Kette von gegenseitig verständlichen Sprachvarietäten, könnte sich eine Varietät am Ende des Dialektkontinuums mit der angrenzenden Varietät bzw. Sprache außerhalb des Dialektkontinuums gegenseitig verständigen, ohne dass die anderen Sprachvarietäten innerhalb der Dialektkontinuums dies auch können. Somit können anhand des Kriteriums der gegenseitigen Verständlichkeit keine eindeutigen Grenzlinien gezogen werden, sondern verschiedene Grenzlinien, die je für sich Sprache und Dialekt in Bezug auf dieselbe Kette von Sprachvarietäten anders einteilen, dann aber diese einzelnen Einteilungen in Sprachen sich widersprechen. Es gibt daher kein wissenschaftlich unstrittiges Kriterium für die Abgrenzung zwischen Sprache und Dialekt. Es wird daher auch die Frage gestellt, ob die Abgrenzung überhaupt wissenschaftlich begründbar ist. Sie ist es wohl nicht. Die Abgrenzung zwischen Sprache und Dialekt erfolgt daher oft weniger aus wissenschaftlichen Gründen als vielmehr aus sozialen oder politischen Gründen. Aus gleichen Gründen kann auch die Wahl der Bezeichnung der Sprache ausfallen, z.B. wenn mit der Sprachbezeichnung eine Verbindung mit der Volkszugehörigkeit und/oder dem Heimatland hergestellt werden soll, das Glossonym dem Ethnonym und/oder dem Toponym entsprechen soll (Beispiel: Deutsch – Deutsche – Deutschland). Die Klassifizierungen sind daher künstlich und nicht natürlich.

Es ist möglich, dass eine Person, die etwa nur Plattdeutsch versteht (solche Personen gibt es in den USA, deren Vorfahren noch vor der Zeit der allgemeinen Schulpflicht emigrierten), einen Niederländer besser versteht als bairisches Deutsch. Als weiteres Beispiel kann Schwedisch, Norwegisch und Dänisch aufgeführt werden: Manchmal verstehen sich zwei Sprecher bestimmter Varietäten zweier dieser Sprachen besser als zwei Sprecher verschiedener Varietäten einer dieser Sprachen. Hier sieht man beispielhaft, dass die Klassifizierungen von Gruppen als Ethnien/Nationen mittels des Kriteriums der Sprache Konstrukte und damit künstlich und nicht durch “die Natur” der Sprache vorherbestimmt sind. Dasselbe gilt sogar für sonstige Merkmale wie das der Rasse, der Kultur, der Abstammung usw. Diese Erkenntnis ist heute in den seriösen Sozialwissenschaften anerkannt (in dem mittlerweile herrschenden konstruktivistischen Ansatz, im Gegensatz zum primordialistischen), die vielen nationalistisch-ideologischen Auffassungen widerspricht. Die bekanntesten Nationalismustheoretiker der Welt beschreiben Nationen, und damit im Falle des ethnischen Nationalismus auch Ethnien, daher als “imagined communities” (Benedict Anderson) und “contingent” (Ernest Gellner), ihre Entstehung beruhen auf “invented traditions” (Eric Hobsbawm).

Der kurdische Nationalismus beispielsweise hat ein Narrativ einer jahrtausende zurückreichenden ethnischen Kontinuität der Kurden entwickelt. Dabei werden die Êzîden als originäre Kurden (sog. “kurdên resen”) mit einer “kurdischsprachigen” Religion einbezogen, die den Islam (damit ein fremdes Element) nicht annahmen und damit die “Ursprungsreligion der Kurden” behielten. Das Narrativ einer gemeinsamen ethnischen Kontinuität ist aber rein ideologisches Konstrukt zur Legitimation eines Nationalismus. Heute gibt es aber nicht wenige Êzîden, die diesem Narrativ völlig unkritisch Glauben schenken. Hier ist beispielhaft beobachtbar, wie sich eine ethnische Selbstdefinition einer Gruppe durch ein ideologisches Narrativ, welches wenig mit der tatsächlichen Historie gemein hat, ändern lassen kann. Oder wie Ernest Renan am 11. März 1882 in seiner berühmten Rede mit dem Titel „Qu’est-ce qu’une nation?“ (Was ist eine Nation?) ausdrückt: “Das Vergessen – ich möchte fast sagen: das historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung der Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation.” Tatsächlich hat es in der Zeit vor dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches, der mit dem Aufkommen des Nationalismus in der Region zusammenfällt, getrennte und jeweils eigenständige Ethnogenesen der Kurden und Êzîden gegeben, religionenüberschreitendes ethnisches Bewusstsein war dem Zeitgeist fremd, auch das osmanische Millet-System klassifizierte soziale Gruppen anhand der Religionszugehörigkeit. Es soll hier aber nicht die Ethnogenese der Êzîden anhand historisch fassbaren Tatsachen nachgezeichnet werden. Hier soll es vorwiegend um die Sprache gehen.

Im Falle der Kurden lässt sich feststellen: Obwohl sich unter ihnen die Sprecher der verschiedenen “kurdischen Dialekte”, etwa Kurmandschi, Zazaki, Sorani, Gorani, wohl in den meisten Fällen nicht ohne weiteres gegenseitig verständigen können, betrachten sie all diese Varietäten als Dialekte einer Sprache, der kurdischen Sprache. Oder man versuche Lurisch (kurd. loranî) zu klassifizieren: Eigene Sprache, kurdischer Dialekt oder persischer Dialekt? Das Kriterium der gegenseitigen Verständlichkeit ist oft nicht erfüllt. Aber die Verschiedensprachigkeit einer Gruppe schließt nicht zwingend ihren Charakter als Ethnie oder Nation aus. Es gibt Nationen mit mehr als einer Sprache, etwa die Schweiz. Aber auch Gleichsprachigkeit begründet nicht zwingend eine gemeinsame Nation. Oft haben voneinander verschiedene Nationen dieselbe Sprache. Auch wenn man also von verschiedenen kurdischen Sprachen ausgeht (was die Mehrheit der Kurden nicht tut), schließt dies nicht eine gemeinsame kurdische Nationalität aus. Andererseits ist es wiederum nicht zwingend, dass Gruppen, die mit Kurden eine gemeinsame Sprache sprechen, als der kurdischen Nation bzw. Ethnie zugehörig einzustufen sind.

Nach dem soeben Gesagten ist die Verwendung von “Êzdîkî” nicht in irgendeinem Sinne “falsch”. Und Êzdîkî kann auch nicht ohne Weiteres mit Kurdisch gleichgesetzt werden: Zum einen ist Kurdisch anhand von objektiven Kriterien nicht klar eingrenzbar (da die Abgrenzung von Sprachen und Dialekte oft subjektiver Natur sind), zum anderen können verschiedene Gruppen, die dieselbe Sprache sprechen, durchaus verschiedene Glossonyme verwenden. Als objektiv wahr lässt sich lediglich feststellen, dass mit Kurmandschi und Êzdîkî dieselbe Sprachvarietät bezeichnet werden.

Êzdîkî in der Vergangenheit und Gegenwart

Wie erwähnt, wird das Glossonym “Êzdîkî” heute fast nur noch von den Êzîden aus dem postsowjetischen Raum verwendet. Dies wirft folgende Fragen auf: Welche Glossonyme darüber hinaus haben die Êzîden im Verlauf der Geschichte bis heute verwendet? Wie ist es bei den sonstigen Êzîden gewesen?

Viele kurdische Nationalisten, unter ihnen vor allem ältere sogenannte “kurdisch-êzdische Intellektuelle” (so deren unter den übrigen Êzîden verbreitete Bezeichnung für diese Klasse), bemühten und bemühen sich unermüdlich darum, dass die Êzîden anstelle des Wortes “Êzdîkî” (Ezidisch) die Bezeichnung “Kurdî” (Kurdisch) benutzen. Vor allem seitdem in Armenien nach dem Zerfall der Sowjetunion Êzdîkî als offiziell anerkannte Minderheitensprache gilt und sogar mit staatlicher Förderung Schulbücher in “Êzdîkî” gedruckt wurden. Es gebe keine Sprache, die “Êzdîkî” heiße, so oftmals deren Credo. Dass Armenien “Êzdîkî” als Sprache anerkannt hat, sei das Werk von armenischen Nationalisten, die das kurdische Volk spalten wollten, indem sie die Êzîden von den restlichen Kurden ethnisch trennten. Und die Êzîden, die dieser Politik zustimmen, seien ungebildet, unwissend und Marionetten fremder Interessen. In dieser oder ähnlicher Art finden sich Äußerungen fast aller “kurdisch-ezidischer Intellektueller”.

Ist das wahr? Haben Armenier in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts aus politisch-ideologischen Gründen das Glossonym “Êzdîkî” erfunden und den Êzîden untergeschoben? Dies ist ganz klar nicht der Fall. Jeder, der sich heute als teilnehmender Beobachter unter den heutigen postsowjetischen Êzîden befindet, wird feststellen, dass in deren Alltag quer durch die Gesellschaft hindurch das Wort “Êzdîkî” verwendet wird. Auch von alten Greisen. Fragt man diese, ohne ihnen gegenüber eine kurdisch-nationalistische Erwartungshaltung auszudrücken, ob auch während ihrer Kindheit “Êzdîkî” verwendet wurde, also noch lange vor der Unabhängigkeit Armeniens, werden sie es als selbstverständlich bejahen. Danach müssten auch die erwähnten “kurdisch-êzîdischen Intellektuellen” aus Armenien, die die Existenz des “Êzdîkî” verleugnen und gegen die Verwendung ankämpfen, die Bezeichnung “Êzdîkî” aus ihrer Kindheit kennen. Und das ist tatsächlich der Fall, wird aber verschwiegen. Diese verblüffende Feststellung mussten schon einige Personen machen, nachdem sie die êzîdische Gesellschaft des Kaukasus näher kennenlernten. Christliche Sekten, die nach dem Fall des eisernen Vorhanges in der ehemaligen Sowjetunion zu missionieren begangen, gaben eine “Bibel in Êzdîkî” heraus. Dass sie, um die Êzîden bekehren zu können, nicht “Kurmandschi” oder “Kurdî” wählten, hat seinen Grund darin, dass sie sich dadurch größeren Missionierungserfolg erhofften, da den Menschen “Êzdîkî” vertrauter war.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage interessant, ob  neben “Êzdîkî” auch “Kurdî” und “Kurmancî” in der Sowjetunion verwendet wurden, in einer Zeit also, in der Êzîden das erste mal in der Geschichte in einem Staat lebten, der ihnen Bildung ermöglichte und – in ihrem Ausmaß für die Êzîden historisch beispiellos – kulturelle Teilhabe in der Muttersprache aktiv förderte. Hinterlassen wurde ein umfangreiches kulturelles Erbe, auf das heute noch zurückgegriffen wird.

Die frühe Entwicklung lässt sich anhand von Arab Shamilov (Erebê Şemo) darstellen. Ereb Shamilov stammt aus einer êzidischen Scheichfamilie (Schechobekir-Scheichs innerhalb der Qatani-Abstammungslinie) und ist historisch als der Autor des ersten Romans in Kurmandschi bekannt. Noch im Jahre 1926 schrieb Shamilov in einem Artikel in einer russischsprachigen sowjetischen Zeitung: “Zwei êzîdîsche Dörfer, Bolshoi und Maliy Mirak, haben mit dem Bau einer Schule für 80 Schüler begonnen. In der Schule wird der Unterricht in der êzîdîschen Sprache erfolgen.” Arab Shamilov, der Autor des ersten Kurmandschi-Romans der Geschichte spricht hier von einer “êzîdîschen Sprache”. In späteren Jahren, und dann fortlaufend bis zum Ende der Sowjetunion, verschwand die Sprachbezeichnung “Êzîdîsch” aus der Öffentlichkeit, Êzîden selbst verwendeten nach außen hin “Kurmandschi”. Der Grund, warum in dieser Periode die Êzîden der Sowjetunion untereinander die Bezeichnung “Êzdîkî” verwendeten, nach außen hin aber nicht mehr, ist mit Stalins Nationalitätenpolitik, die in den 1930er Jahren implementiert wurde, zu erklären.

Nachdem Stalin von Lenin beauftragt wurde, die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion zu untersuchen, schrieb Stalin 1913, eine gemeinsame Sprache sei charakteristisches Merkmal einer Nation. Er erwähnt gleichwohl, dass verschiedene Nationen dieselbe Sprache haben können. Demnach müssten nach ihm Êzîden und Kurden nicht notwendig dieselbe Ethnie bilden. Die anti-religiöse Tendenz seiner sozialistischen Ideologie aber lässt darauf schließen, dass für ihn die Religionszugehörigkeit kein ethnien- bzw. nationenbegründendes Kriterium war. Zwar akzeptierte er das Recht auf nationale Selbstbestimmung, wie aber Nation zu definieren war, sollte von oben so bestimmt werden, wie es dem Sozialismus am zweckmäßigsten war. In dieser Definition hatte die Religionszugehörigkeit als Merkmal keinen Platz. Ethno-religiöse Identitäten, und damit auch Glossonyme mit Bezug zu einer ethno-religiösen Identität waren danach unerwünscht. Das führte zum Verschwinden von “Êzdîkî” als Glossonym in der Öffentlichkeit, zugunsten von Kurmandschi bzw. Kurdisch. Diese Veränderungen der politischen Umstände scheinen auch einen Einfluss auf Arab Shamilov und spätere Autoren gehabt zu haben, nach 1930 verwendet auch er nicht mehr “Êzîdisch”. Die Situation änderte sich schlagartig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Aufleben des armenischen Nationalismus und der Unabhängigkeit Armeniens.

Ein weiteres mal änderten sich die politischen Umstände, die Einfluss auf die Êzîden hatten und bis heute haben. Muslimische Kurden waren in Armenien nicht mehr willkommen, da Armenien in einem kriegerischen Konflikt um die Region Berg-Karabach gegen Aserbaidschan stand und sich vor der Loyalität der muslimischen Kurden mit den Aserbaidschanern vor allem aufgrund der gemeinsamen Religion des Islam fürchtete und die Armenier die muslimischen Kurden als Beteiligte an der Vollstreckung des Völkermordes an den Armeniern um 1915 in Erinnerung hatten, so gut wie alle verließen Armenien. Weiterhin standen sich nunmehr Ideologismen des armenischen und kurdischen Nationalismus konkurrierend gegenüber. Was für Armenier “West-Armenien” ist, ist für Kurden “Nord-Kurdistan”. Aus diesen allen Gründen existierte die Neigung in Armenien, den “kurdischen Faktor” in Armenien möglichst zu schwächen. Wozu auch die Politik einer separaten êzîdischen Ethnie beitrug. Nachdem die Nationalitätenpolitk der Sowjets und der politische Aktivismus der Kurden im 20. Jahrhundert die Êzîden in die eine Richtung – die der Kurdisierung – zu beeinflussen versuchte, gab es nunmehr auch eine politische Kraft, die die Êzîden in die andere Richtung zu beeinflussen versuchte. Diese Situation führte zu erheblichen Spannungen innerhalb der êzîdischen Gemeinschaft aus Armenien, die teils gewaltsame Formen annahm. Eine intellektuelle kurdisch-nationalistische Klasse von Êzîden, sozialisiert in der Sowjetunion, sah das Vermächtnis ihrer Lebensleistung, die dem kurdischen Nationalismus gewidmet war, in Gefahr, wenn die Êzîden sich nicht mehr als Kurden identifizierten. Armenien aber anerkannte “Êzdîkî” als offizielle Minderheitensprache, daneben aber auch “Kurdisch”.

Es ist anzumerken, dass beispielsweise in Irakisch-Kurdistan die Kurdisierungspolitik gegenüber den Êzîden viel radikaler verlief und verläuft als die armenische Politik, die nicht auf Zwang, sondern lediglich auf proaktive Anerkennungspolitik beruhte. Heutige kurdische Medien vor allem im Nordirak wie Rudaw oder Kurdistan24 versuchen fortwährend den Begriff „Êzîden“ kurdisch-nationalistisch aufzuladen um eine Suggestionswirkung zu erzielen, fast nie wird über Êzîden berichtet, ohne gleichzeitig auszudrücken, dass sie Kurden seien. Welche Folgen es haben kann, wenn Êzîden im Nordirak sich nicht als Kurden definieren wollen, kann man in einem Human-Rights-Watch-Bericht von 2009 lesen: Zwei Mitglieder der ezidischen Partei ISLAH, welche eine eigenständige ezidische Identität propagiert, wurden von kurdischen Sicherheitskräften (Asayiş) gefasst und im Verhör gefoltert. Einer von ihnen wurde während des Verhörs gefragt “Welche ist deine Sprache?”, woraufhin er antwortete “Êzîdîsch”. Ihm wurde erwidert: “Nein, Êzîden haben keine Sprache, sie sprechen Kurdisch”. Zur Strafe wurde er abgeführt und weiter gefoltert (Siehe Link).

Auch die Wissenschaft ist in diesem Kontext der Identitätspolitik nicht ideologiefrei. In Armenien verwenden Orientalisten das Wort “Êzdîkî”, was vielen kurdischen Autoren ein Dorn im Auge ist. Westliche Wissenschaftler hingegen verwenden das Wort “Êzdîkî” nie und beschreiben die Êzîden immer als “kurdisch”-sprachig. Das mag wohl daran liegen, dass westliche Wissenschaftler bei ihren Feldforschungen vorwiegend mit kurdisch-nationalistisch sozialisierten Personen in Kontakt kamen, sie somit unter Einfluss des kurdischen Nationalismus standen, und dies bis heute der Fall zu sein scheint. Beiden Seiten sind hier Vorwürfe zu machen, da Aufgabe von Wissenschaftlern hier nur sein kann, zu erkennen, wie Êzîden wirklich ihre Sprachen bezeichnen, wie sie sich selbst identifizieren, und gerade nicht, wie sie fremd dargestellt werden oder es dem eigenen Narrativ zuträglicher ist.

Heute ist das Glossonym “Êzdîkî” vor allem unter den Êzîden aus der ehemaligen Sowjetunion gebräuchlich, daneben gewinnt diese Bezeichnung auch in der ezidischen Diaspora in Deutschland sowie in einigen Teilen ihrer Siedlungsgebiete in Irak an Popularität. Doch interessant ist, dass Êzîden der Vergangenheit, die nicht Vorfahren der Sowjet-Êzîden sind, ebenfalls dieses Glossonym verwendeten. Der Vorwurf, die Êzîden hätten zur ethnischen Differenzierung zu Kurden den Begriff “Êzdîkî” erfunden und dieser sei vom armensichen Staat gefördert wurden, läuft ad acta. Der Anthropologe Ernest Chantre hat während seiner Forschungsreisen im Jahre 1895 Êzîden in Birecik in der heutigen Türkei interviewt. Darüber berichtet er wie folgt (übersetzt aus dem Französischen):

“Sie beide [Êzîdî und Kurden, Anm.] sprechen “Kourmandji”. Wobei die Êzîden ihre Sprache als “zyman e ezda” (die Sprache der Êzîden”) bezeichnen, und sie behaupten, dass es die Kurden sind, die ihre Sprache sprechen, und nicht sie diejenigen sind, die die Sprache der Kurden sprechen.”

(„Les uns et les autres parlent le «Kourmandji». Quoique les Yézidi appellent leur langue «zyman e ezda» (langue des Yézidi ) et prétendent que ce sont les Kurdes qui parlent leur langue, et non pas eux qui parlent la langue des Kurdes.“ (Ernest Chantre, „Notes ethnologiques sur les Yésidi“, 1895))

Es existierten also auch Êzîden außerhalb des armensichen Einflussgebietes, die lange zuvor für die eigene Sprache nicht einmal die Bezeichnung “Kurmandschi” verwenden wollten und lieber von “der Sprache der Êzîden ” sprachen. Es ist nicht verwunderlich, dass das oben erwähnte nationalistische Narrativ solche Quellen nicht beachtet. Und auch die Wissenschaft hat bis heute solche Quellen – anders lässt es sich nicht erklären – bewusst unterschlagen.

Gewiss ist aber auch, dass viele Êzîden die Bezeichnung “Kurmandschi” verwendeten und immer noch verwenden. Bei den Kurden und Êzîden gleichermaßen gilt: Die Verwendung von “Kurdî” (Kurdisch) wurde erst in den letzten Jahrzehnten, vor allem durch kurdische Fernsehsender mit nationalistischer Agenda, gefördert – aus heutiger Sicht sehr erfolgreich. Die Verwendung von “Kurmandschi” war früher geläufiger.  Heute wird Kurmandschi von Kurden als ein Dialekt der kurdischen Sprache aufgefasst, die noch viele andere Dialekte wie “Sorani” oder gar “Zazaki” umfasse. Auch wenn die Êzîden früher “kurmancî” verwendeten, zwischen den Wörtern “kurmancî” und “kurdî” besteht kein nachweisbarer etymologischer Zusammenhang. Versuche, einen solchen Zusammenhang herzustellen, führten bisher zu verschiedenen, teils sich widersprechenden Theorien. Eine Theorie (MacKanzie) besagt, “kurmanc” (Kurmandsche) sei eine Zusammensetzung aus “Kurd” für Kurde und “manc” für Meder. Eine andere Theorie behauptet, “Kurmancî” leite sich vom Namen der Stadt Kermanschah (kurd. kirmanşan) ab. Nichtsdestotrotz verwenden heute manchmal auch Êzîden das Wort “Kurdî”, wenn es gegenüber Fremden dem Verständnis dienlicher ist.

Interessant ist an dieser Stelle auch die Tatsache, dass bis heute von einem großen Teil der Êzîden der Begriff “Kurmanc” ausschließlich als Bezeichnung für muslimische Kurden verwendet wird. Als Kurmanc bezeichnen sich vor allem kurmancî-sprechende Kurden in der Türkei und Syrien. Dieses Endonym (Selbstbezeichnung) wird aber bis heute von Êzîden, obwohl viele von ihnen ihre Sprache selbst als Kurmancî und sich selbst als Kurden definieren und mit muslimischen Kurden im selben Gebiet lebten, ausschließlich als differierendes Merkmal benutzt. Dies hat historische, ethno-religiöse Gründe, die heute kaum noch im Bewusstsein gegenwärtig sind.

Bezeichnend ist auch, dass heutige Êzîden, die kurdisch-nationalistisch sozialisiert wurden, sich nicht gegen die für Êzîden historisch relativ neue Eigenbezeichnung “kurdî” wenden, aber gegen die historisch länger verwendete Selbstbezeichnung “êzdîkî”, wobei sie argumentieren, dass “unsere Sprache schon immer “kurdî” war und “êzdîkî” neu erfunden sei, um die Kurden zu spalten”, also fast das Gegenteil von dem behaupten, was wahr ist, und das mit einer verblüffenden Überzeugung. “Êzdîkî” solle nicht verwendet werden, stattdessen “Kurdî” und alle sollen sich als Kurden identifizieren, schließlich sprächen die Muslime auch nicht “Muslimisch”. Tatsache ist, das Sprachbezeichnung keinen Naturgesetzen oder Logik folgen. Natürlich ist es denkmöglich, eine Sprache „Muslimisch“ zu nennen, auch wenn es eine solche wohl nirgendwo gibt. Aber daraus, wie andere es machen oder nicht machen, folgt keine Notwendigkeit, es ebenso zu machen oder eben nicht. Es gibt aber zum Beispiel “Yiddish“, was als Glossonym von Juden verwendet wird und übersetzt “Jüdisch” bedeutet. „Êzdîkî“ ist damit kein Einzelfall. Es spielt hier wohl eine Rolle, dass der Islam und das Christentum Religionen mit Universalanspruch und starker Verbreitung sind, daher bei der Sprachenvielfalt ein Glossonym mit Entlehnung aus der Religionsbezeichnung keine Unterscheidungsfähigkeit bei Sprachen zur Folge hätte. Das ist bei Juden und Êzîden aber anders.

Vor diesem Hintergrund ist es passend, hier zwei  Beispiele zu veranschaulichen, um zu sehen, wie versucht wird, eine nationalistisches Narrativ zu konstruieren. Arab Shamilov (Êrebê Shemo), der Autor des ersten kurmandschisprachigen Roman, gab diesem Roman den Titel “Shivane kurmanca”, was übersetzt werden kann mit “Der Hirte der Kurmandschen”. Diese Bezeichnung gefiel einigen kurdischen Nationalisten nicht. Denn wenn “der erste kurdische Roman der Geschichte” nur von “Kurmandschen” und nicht von “Kurden” spricht, lässt sich dieser Roman als nationales Symbol weniger nützlich zur Legitimation des kurdischen Nationalismus machen. Also druckte man später einfach neue Auflagen dieses Buches mit dem Titel “Shivane kurda” (Der Hirte der Kurden). Ein anderes Beispiel: Das “Folklorê kurmanca” (Die Folklore der Kurmadschen) von Heciye Cindî wurde einfach umbenannt in “Folklorê kurda” (Die Folklore der Kurden).

Es drängt sich die Frage auf, warum sogar gewisse Intellektuelle und politisch aktive “ezidische Kurden” so vehement das Glossonym “Êzdîkî” bekämpfen. Obwohl sogar einige von ihnen, nämlich die aus der ehemaligen Sowjetunion, es – was sie selbst nicht zugeben – aus ihrer eigenen Kindheit mit der Bezeichnung vertraut sein müssen. Der Grund ist deren verinnerlichte kurdisch-nationalistische Ideologie. Selbst ideologisiert streben sie nach Ideologisierung anderer, Ideologie zielt auf die Veränderung des Willens anderer, in diesem Fall die Förderung eines kurdischen Nationalgefühls durch Identitätspolitik in Form von Sprachpolitik. Dass man andere aber nicht dazu zwingen kann, wird ausgeblendet. Durch ihre nationalistisch-ideologische Verblendung ist ihnen der Zugang an objektiver Erkenntnis versperrt. Sie können oder wollen nicht akzeptieren, dass Êzîden die Bezeichnung “Êzdîkî” verwenden, weil es nur “Kurdî” geben solle. Deshalb seien jene Êzîden dumm, ungebildet, unwissend und Marionetten der Unterdrücker des kurdischen Volkes und somit Volksverräter. Sie selbst dagegen betrachten sich als die intellektuelle Elite. In Wahrheit führte diese ideologische Verblendung zu faschistoiden Tendenzen und Unvernunft. Nicht ein einziger kurdisch-nationalistischer Êzîden hat sich zum Beispiel gegen die Folterungen von êzidischen Aktivisten, über die Human Rights Watch berichtete, ausgesprochen, weil sie die gleiche nationalistische Doktrin vertreten: Êzîden seien Kurden und sprechen Kurdisch. Sie sind reine nationalistische Ideologen und nationalismustheoretisch und anthropologisch fast völlig unwissend und ungebildet. Jüngere, aufgeschlossenere Generationen der Êzîden haben für diese Personen zunehmend nur Unverständnis übrig und betrachten sie als tragische Figuren in der êzîdischen Geschichte.

Es ist teils verblüffend, mit welcher Dynamik heute besonders intellektuelle Kreise der Êzîden versuchen die Geschichte ihrer eigenen Vorfahren zugunsten scheinbar nationalistischer Ziele entweder zu verzerren oder sogar ganz zu leugnen, umzudeuten und damit zu verfälschen.  Also gegen ein Erbe, gegen eine Identität ankämpfen, für das die Êzîden bis heute mit ihrem Leben bezahlen, wie die Ereignisse im Jahr 2014 aufs Neue gezeigt haben.

Quelle:

© ÊzîdîPress, 12. September 2018

Eziden, eine Religiöse Minderheit oder ein Volk?

Scherin ist 5 Jahre alt und besucht mittlerweile die Kindertagesstätte. Bei ihrer Anmeldung erinnert sie sich daran, wie die Kindergartenleitung fragte, welche Sprache sie spreche. Scherin antwortet: ,,Ezidisch“. Die Kindergartenleitung wirkt irritiert und äußert, ob Scherin wohlmöglich kurdisch meine. Scherin antwortet erneut: ,,Ezidisch.“ Anschließend beobachtet Scherins Vater, wie die Kindergartenleitung unter dem Punkt Volkszugehörigkeit „kurdisch“ einträgt. Scherins Vater verbalisiert der Kindergartenleitung gegenüber, dass er Ezide ist. Wieder wirkt die Kindergartenleitung irriert und entsetzt.

An diesem Beispiel wird deutlich mit welchen Themen ezidischstämmige Kinder und Jugendliche in Deutschland konfrontiert sind. Selbstverständlich ist an dieser Stelle der Kindertages-stättenleitung kein Vorwurf zu machen, da ihr Wissen größtenteils auf ideologisch geprägte (nicht unabhängige, häufig auch von der Kurdischen Regionalregierung finanzierte abhängige Akademiker) wissenschaftliche Verschriftlichungen beruht, in denen die These lautet, dass die Eziden eine Religiöse Minderheit sind und zum Kurdischen Volk gehören. Doch womit wird dieser Mythos begründet? Hierzu später mehr…

Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahren kamen die ersten Eziden vor allem aus der heutigen Türkei nach Deutschland, um den gravierenden Umständen im Heimatland der Eziden zu entfliehen und ein in Deutschland „sichereres“ Leben zu führen. Fragte man die in Deutschland lebende erste und zweite Generation nach ihrem Alltag, verbalisieren sie fast ausschließlich, dass sie in ihrer Heimat im Unterschied zu heute Differenzen bezüglich der Identitätsfrage hatten. Im Heimatland repräsentierten sie kontinuierlich das Ezidische Volk (die Frage der Volkszugehörigkeit wird im Laufe des Lesens beantwortet werden), was aus folgenden Aussagen zu erschließen ist: ,,Kurden sind Muslime. Kurmancis waren diejenigen, mit denen man nicht verwandt war, da sie bezüglich ihrer Kultur starke Differenzen hatten. Nicht selten versuchte das kurdische Volk, damals „kurmanc“ genannt, vor allem in bestimmten ezidischen Dörfern der heutigen Türkei, wie beispielsweise Khanke und/oder Kiwexe über Nacht einzudringen und sie auszuplündern, allerdings vergebens, da die Eziden auf Angriffe dieser Art vorbereitet waren. Hierzu bieten wir Ihnen die Möglichkeit Eziden aus Kiwäxe, Khanke und/oder Bacine zu befragen, die das Ihnen bestätigen werden. Die Eziden lebten in Dörfer. Die Ezidische Community war ausschließlich in eigene, von den Eziden selbst eingerichteten, Dörfern zu finden. Sie pflegten ein „einfaches“ Leben. Auf der anderen Seite lebten sie in ständiger Anspannung, da sie nicht vorhersehen konnten, wann die „kurmancis“ sie erneut angreifen würden.Infolge dieser Erfahrung entwickelte und etablierte sich in der Ezidischen Coummunity das Wort „kurmanc“ zu einem Schimpfwort. Sowohl in der heutigen Türkei, als auch in Ezidischen Dörfern Syriens (wie beispielsweise Afkira und Xrbe Xö) herrschte aufgrund der einfachen und ärmlichen Verhältnisse ein geringer Bildungsgrad, da das Arbeiten und Überleben auf dem Feld bedeutsamer war, als den Besuch einer schulischen Institution. Im Heimatland der Eziden bekannten sich die Eziden kontinuierlich zu dem Ezidschen Volk („mlete ezidi“, was auf ezidisch „das Ezidische Volk“ bedeutet).

Exkursion:

-Kurmanc war und ist nicht die Ezidische Coummunity. Kurmanc sind unter anderem ehemals Ezidische Bürger, die aufgrund der Kriege und Zwangskonventierung eine andere Kultur und Religion angenommen und sich somit der Ezidischen Community entfernt haben.
-Im heutigen Iran gab es einen Berg, wo Stämme der Aramäer, Juden, Assyrer und Eziden gelebt haben, allerdings zum Islam zwangskonventieren mussten. Diese zwangskonventierte Gruppe wurde infolge dessen Kurmancis genannt.
-Kurmanc war im Heimatland der Eziden in Anlehnung der Volksfrage ein Synonym für Kurden, in Anlehnung der Religionsfrage ein Synonym für ezidischesprechende Muslime.

Doch wie ist es möglich, dass sich heute vor allem infolge der oben beschriebenen Geschichte und Erfahrung viele Eziden zu einem anderen Volk -und zwar dem Kurdischen Volk- bekennen?
Hier geht es nicht um die Frage, ob die Eziden ein Volk im rechtssinne sind, sondern um die persönliche und subjektive Identitäsfrage.
In der Reflexion mit Eziden aus der heutigen Türkei wird nicht selten Folgendes verbalisiert:
,,Mit Gewalt war des den Kurmancis nicht möglich uns zu assimilieren, allerdings mit einer emotional einflussreichen Politik.“

Als die ersten Eziden in Deutschland angekommen sind und sich die Frage stellte, ob sie Asyl erhalten, ging es gleichzeitig darum sich in deutschen Behörden vorzustellen. Bitte denken sie hierbei daran, dass die Eziden relativ kurz in Deutschland sind, die Sprache nicht sprechen, sich unsicher fühlen, da ihre Umgebung „neu“ ist und auf Unterstützung anderer angewiesen sind.
Zu dem Zeitpunkt waren die sogenannten Kurmancis aus den Heimatländern auch in Deutschland vorzufinden. Viele von ihnen gehören mittlerweile zu den Intellektuellen, dessen Einfluss in der Wissenschaft der Ezidischen Coummunity zum Verhängnis wurde.
Mit der Zeit entwickelt sich aufgrund einer gemeinsamen Sprache und Herkunftsland ein Verhältnis zwischen den Kurmancis und Eziden.

Wie kam es dazu, dass Eziden sich mit der Zeit in Anlehnung der Volksfrage als Kurden vorgestellt haben?

Hierzu sollten sie wissen, dass die Eziden ungern und schweren Herzens ihre Heimatländer verlassen mussten, da ein friedliches Leben aufgrund der Assimilierung und Unterdrückung kaum und mit der Zeit fast unmöglich war. In Deutschland sehnten sie sich lange Zeit (viele der ersten Generation sehnen sich bis heute) nach ihrer Heimat. Trotz des Lebens in Armut vermissen viele Eziden ihr Land, was bis heute in ezidischen melankolischen Liedern verbalisiert wird.

Die Kurden, die gleichzeitig für einen eigenen Staat kämpften, werbten in ihrer Politik damit, dass es den Eziden infolge eines Kurdischen Staates im Heimatland besser gehen wird und sie zurückkehren können, da man ihnen ein besseres Leben bieten würde. Schließlich nutzt man die Psychische Angeschlagenheit der Eziden und ihre Sehnsucht aus, um sie für eigene Zwecke (Kurdischen Staat) zu instrumentalisieren. Gleichzeitgig ist dieser Prozess mit intensiver „Hoffnungs-Macherrei“, fernab von der tatsächlichen Realität, verbunden. (Heute beschreiben sich rückblickend zunehmend mehr Eziden damals als naiv und “leichtgläubig“.)
Parallel haben zu diesem Zeitpunkt die Kurden eines geschaffen; einen vermeintlich gemeinsamen Feind (die Türken beziehungsweise der Türkische Staat, die den Traum der Kurden-Nationalstaat- im Wege stehen). Argumentativ und in Anlehnung eines psychologischen Einflusses verbalisieren die Kurden den Eziden (in Anlehnung an der Erfahrung mit Assimilierung, Unterdrückung und Stigmatisierung) gegenüber immer häufiger „ein gemeinsames Schicksal“, ein gemeinsames Land und eine gemeinsame Sprache. So kam es immer öfter vor, dass nicht mehr von „den Eziden“ und „den Kurden“ gesprochen wird, sondern ausschließlich von „den Kurden“.
Schließlich ist kurdisch, all das was ihnen für eigenen Zwecke zu Nutze gemacht werden könnte (hierzu empfiehlt es sich in die vermeintlich richtige “kurdischabhängige“ wissenschaftliche Literatur zu blicken, in der selbst die Religiöse Minderheit der Juden seitens der Kurden als kurdisch bezeichnet werden).

Doch auf welcher Ideologischen Grundlage agieren die Kurden im Alltag?

Hierzu sollte es von großer Bedeutung sein sich mit den Politiker Abdullah Öcelan und seinem Grundgedanken des Demokratischen Konförderalismus auseinanderzusetzen, das im heutigen Rojava, besser Norden Syrien, praktiziert wird. Selbstverständlich „kämpfen“ Anhänger des Abdullah Öcelans auf der Grundlage des Demokratischen Konförderalismus für einen Nicht-Nationalstaat, allerdings möchte ich an dieser Stelle folgende Frage stellen:

Inwieweit hat die Kurdische Politik bzw. Ideologie des Demokratischen Konförderalismus den Eziden bezüglich ihrer Selbstverwirklichung weitergeholfen? Was ist tatsächlich (gemeint ist nicht das Instrumentalisieren für anderen Zwecke) im Namen der Eziden für die Ezidische-Community umgesetzt und realisiert worden?
An dieser Stelle möchten wir auf die menschlich unwürdigen Umstände in den Ezidischen Flüchtlingslagern im Norden des Iraks aufmerksam machen, die wiederum von der Kurdischen Regionalregierung gesteuert werden. Und gleichzeitig ist die politische Arbeit und Ideologie der Kurdischen Regionalregierung für die Anerkennung und Eigenständigkeit des Ezidischen Volkes ein großes Hindernis, da sie geschichtlich und bis heute die Eziden instrumentalisieren und gleichzeitig diskriminieren (Ungleichbehandlung, die zu einer Benachteiligung und/oder Herabwürdigung führt). Darüber hinaus möchten wir auf das Religiöse Oberhaupt der Eziden -Shex Hrto, Bave Shekh- aufmerksam machen, der zu Beginn seiner “Amtszeit“ globte lediglich dem Ezidischen Volk zu dienen, allerdings im weiteren Verlauf öffentlich die Eziden als Kurden repräsentierte, vor allem wenn bedeutsame Veranstaltungen des Kurdischen Regionalpolitikers Masud Barzani stattgefunden haben, worin der “Politische Druck“, die Assimilierung und Unterdrückung, fernab eines demokratisch menschenwürdigen Lebens, für die Eziden sichtbar wurde. Auch der Vater von Masud Barzani, Mustafa Barzani, griff zu menschenverachtenden Methoden um die Eziden zu assimilieren. Er beauftragte abhängige Radiosender kontinuierlich zu behaupten, dass die Eziden zu den Kurden gehören, während vor allem in der damaligen Sowjetunion tausende Eziden Proteste veranstaltet haben, um sich dem zu wiedersetzten.
Schließlich geht es hierbei nicht darum, den Lesern eine bestimmte Identität überzustülpen, da jeder Mensch frei entscheiden dürfen sollte, wozu er sich bekennen möchte (persönliche Identitätsfrage).

Allerdings sollte es von großer Bedeutung sein, sich -fernab von politischem Einfluss- der Frage zu widmen, ob die Eziden eine Religiöse Minderheit oder im rechtssinne doch eher ein eigenständiges Volk sind. Von einem Volk wird im rechtssinne gesprochen, wenn man im Rahmen einer Gemeinschaft ein Verwandtschaftsverhältnis pflegt, eine eigene Kultur, Geschichte und Sprache besitzt. Anhand dieser Merkmale werden wir im Folgenden beweisen, dass die Ezidische Coumunnity ein Volk repräsentiert.

Die Eziden sind miteinander verwandt. Der eindeutige Beweis hierfür liegt darin in der Ezidischen Coummunity genauer hinzuschauen, da sie in Shekh, Pir und Mirids unterteilt sind. Ein Kurdisch-stämmiger Bürger wird in Anlehnung der Volksfrage nie einen Shekh, Pir oder Mirid-Titel tragen. (Davon abgesehen bitte ich sie an dieser Stelle die Shekh, Pir, Mirid-Frage nicht auf die Religionsfrage zu reduzieren, was mit dem tatsächlichen Alltag der Eziden nicht zu übereinstimmen wäre.) Davon abgesehen pflegen die Eziden eine eigene Kultur, die in der Kurdischen Community nicht praktiziert wird: Ezidisches Essen, wie beispielsweise „Külicä“ und oder „Schilik“ sind in der Kurdischen Coummunity nicht zu finden. Eine Ezidische Trauerfeier infolge eines Todes verläuft in der Regel zwischen 3-7 Tage, während eine Trauerfeier in dieser Art bei dem Kurdischen Volk nicht zu finden ist. Aus traditionellen Gründen wird einem Ezidischen Jungen nach dem ersten Lebensjahr der Pony geschnitten, was wiederrum mit einem traditionellen Fest und Feier verbunden ist (ezidisch: Bisk). Dieses Phänomen ist in der Kurdischen Coummunity in Anlehnung der Volksfrage nicht zu finden. Eine Ezidische Frau verlässt infolge des Gebähren ihre Wohnung 40 Tage nicht, dessen Gründe kulturell zu begründen sind. Darüber hinaus spricht das kurdische Volk die Ezidische Sprache und nicht andersrum, da das Ezidische Volk geschichtlich gesehen um tausende von Jahren älter als das Kurmanci-Volk ist.

Sicherlich werden Kritiker an dieser Stelle das oben Erwähnte unter dem Deckmantel der Religiösen Minderheit verfassen, was in Anlehnung der Volksfrage im rechtssinne nicht zu tragen ist, da laut Definition einer Religion eine Gemeinschaft zugrunde liegt, die auf der Grundlage einer bestimmten durch Lehre und Satzungen festgelegten Glauben und sein Bekenntnis lebt.
Was die Religiöse Frage betrifft, hat das Ezidische Volk auch eine Religion, dessen Wissen auf der Grundlage der „Olm“ (ezidisch. Olm ist keine Buchreligion!) basiert.
In ähnlichen Worten: Ein Ezide sollte das Recht gelassen werden, selbst zu entscheiden religiös zu sein oder auch nicht. Einem Eziden zu unterstellen seinen Alltag in Anlehnung einer Religion und Glaubens zu praktizieren, würde nicht die tatsächliche Realität wiederspiegeln.
Die Religion des Ezidischen Volkes basiert auf der Grundlage der „Olm“. Das ist unter anderem das Glaubensbekenntnis und die Beherrschung von „Qewls“. Nun gehen wir einen Schritt weiter und stellen die Frage auf, wie viele Eziden tatsächlich Olm´s beherrschen und schließlich die Religiöse Minderheit repräsentieren. Sie werden recht schnell bemerken, dass die Eziden im Alltag tatsächlich ein Volk repräsentieren und nicht eine religiöse Minderheit des Kurdischen Volkes.